Die Tochter des Fotografen
zumindest etwas an – na ja, auf jeden Fall Schuhe.
Am Ende des nächsten Blocks kam sie zu den einhundertfünf Stufen, die hinunter zu Koening Field führten. Eines Abends beim Essen, als er in gnädiger Stimmung war, hatte ihr Leo erzählt, wie viele es waren. Nun stand er, mit hängenden Schultern und abstehenden weißen Haaren, am Fuße der langen Betonkaskade und sah so ratlos, verloren und bekümmert aus, daß sich ihr Ärger in Luft auflöste.
Caroline mochte Leo March nicht – er war kein netter Mensch –, aber egal, welche Feindseligkeiten sie ihm gegenüber auch hegte, sie wurden immer wieder von ihrem Mitgefühl unterbrochen. Denn in Momenten wie diesem sah sie ihn, wie man ihn von außen betrachtete: eher als einen alten, senilen und vergeßlichen Mann und nicht als das Universalgenie, das Leo March früher gewesen war.
Er drehte sich um und erblickte sie, und nach einer Weile verschwand die Verwirrung aus seinem Gesicht.
»Sehen Sie sich das an«, schrie er. »Sieh dir das an, Weib, und weine!«
Schnell, ohne das gefrorene Rinnsal in der Mitte der Stufen zu bemerken, rannte Leo die Treppe hoch. Seine Beine stampften, von altem Adrenalin und Verlangen getrieben.
»Ich wette, Sie haben so etwas noch nie gesehen«, keuchte er außer Atem, als er oben angekommen war.
|135| »Stimmt«, sagte Caroline, »und ich hoffe, ich werde es auch nie wieder sehen.«
Leo lachte, wobei seine gut durchbluteten rosa Lippen in scharfem Kontrast zu seiner ausgebleichten, fahlen Haut standen.
»Ich bin Ihnen entkommen«, triumphierte er.
»Weit sind Sie aber nicht gekommen.«
»Ich wäre weiter gekommen, wenn ich ein Gedächtnis hätte. Nächstes Mal.«
»Nächstes Mal nehmen Sie aber einen Mantel mit«, schlug Caroline vor.
»Nächstes Mal«, antwortete er auf dem Nachhauseweg, »werde ich nach Timbuktu verschwinden.«
»Machen Sie das«, sagte Caroline, des Spiels langsam überdrüssig. Lila und weiß wetteiferten die Krokusse mit dem leuchtenden Gras; Phoebes Schreien war jetzt ernst gemeint. Caroline war erleichtert, Leo im Schlepptau zu haben. Zum Glück war nichts Schlimmes geschehen. Es wäre ihre Schuld gewesen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Zu sehr war sie auf Phoebe fixiert gewesen, die nun schon seit Wochen erfolglos versuchte, Gegenstände zu greifen.
Schweigend gingen sie noch ein paar Schritte nebeneinander her.
»Sie sind eine kluge Frau«, sagte er anerkennend.
Sie blieb abrupt stehen. »Was haben Sie gerade gesagt?«
Er sah sie völlig klar an. Seine Augen hatten das gleiche forschende Blau wie Doros.
»Ich habe gesagt, daß Sie klug sind. Meine Tochter hatte vor Ihnen schon acht andere Krankenschwestern eingestellt. Keine von ihnen hat die erste Woche überstanden. Ich wette, das haben Sie nicht gewußt.«
»Nein, davon hatte ich keine Ahnung«, gab Caroline zu.
Später, als sie die Küche aufräumte und den Müll raustrug, dachte sie an Leos Worte. Ich bin klug, wiederholte sie nachdenklich, während sie neben der Mülltonne unter den Alleebäumen |136| stand und die kalte, feuchte Luft ihren Atem zu weißen Wolken werden ließ. Klugheit verhilft dir nicht zu einem Ehemann, erwiderte ihre Mutter scharf darauf, aber selbst das konnte Carolines Hochstimmung über die ersten netten Worte, die Leo zu ihr gesagt hatte, nicht trüben.
Caroline stand noch einen Moment in der Kälte und genoß die Stille. Entlang der Allee, die den Berg hinunterführte, staffelten sich die Garagen dicht an dicht. Allmählich wurde ihr bewußt, daß an ihrem Ende jemand stand: ein großer Mann in dunklen Jeans und einer braunen Jacke. Die Farben seiner Kleidung waren so gedeckt, daß er fast mit der spätwinterlichen Landschaft verschmolz. Etwas an ihm – die Art, wie er dastand und unverwandt in ihre Richtung starrte – war Caroline unangenehm. Sie klappte den Metalldeckel wieder auf die Mülltonne und faltete die Arme vor der Brust. Groß und breitschultrig, kam er jetzt auf sie zu. Er trug gar keine Jacke, sondern einen ausgebeulten Mantel. Nun zog er eine leuchtend rote Mütze aus der Tasche und setzte sie auf. Merkwürdigerweise, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum, löste diese Geste ein seltsames Wohlbefinden bei Caroline aus.
»Hallo da oben«, rief er. »Hat der Fairline wieder seinen Fahrbetrieb aufgenommen?«
Ihre Besorgnis und ihr Unbehagen wuchsen, und sie drehte sich zum Haus um, dessen dunkle Ziegel in den weißen Himmel ragten. Dort war das Badezimmer, wo sie letzte Nacht
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