Die Tochter des Fotografen
gestanden und das Mondlicht auf dem Rasen betrachtet hatte. Da war ihr Fenster. Es stand einen Spaltbreit offen, um die kalte Frühlingsluft einzulassen, und die Spitzenvorhänge dahinter bewegten sich im Wind. Als sie sich wieder umsah, stand der Mann nur ein, zwei Meter von ihr entfernt. Sie kannte ihn, und bevor ihre Gedanken diese Erkenntnis fassen konnten, war ihr dies schon körperlich, durch die Erleichterung, die sie verspürte, bewußt. Aber es war so grotesk, daß sie es kaum glauben konnte.
|137| »Wie, um alles in der Welt …«, begann sie.
»Leicht war es nicht!« unterbrach Al sie lachend, wobei seine Zähne aufblitzten. Er hatte sich einen weichen Bart stehen lassen, und seine dunklen Augen blickten warm und amüsiert. Sie erinnerte sich daran, wie er ihr gebratenen Speck auf den Teller geschoben und ihr von seiner Fahrerkabine aus zugewunken hatte, bevor er davonfuhr. »Sie waren verdammt schwer zu finden, aber Sie haben von Pittsburgh gesprochen. Und ich bin zufällig alle paar Wochen für eine längere Zeit hier. Nach Ihnen zu suchen ist eine Art Hobby von mir geworden.« Er lächelte. »Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was ich mit mir anfangen soll.«
Caroline konnte nicht antworten. Einerseits freute sie sich, ihn zu sehen, andererseits war sie verwirrt. Fast ein Jahr lang hatte sie es sich nicht gestattet, zu lange oder gründlich über das Leben nachzudenken, das sie hinter sich gelassen hatte. Aber nun kam alles mit großer Kraft und Intensität wieder in ihr hoch: der Geruch von Reinigungsmitteln und Sonne im Wartezimmer und das Gefühl, nach einem langen Arbeitstag in ihre ruhige, ordentliche Wohnung zu kommen, sich eine einfache Mahlzeit zuzubereiten und sich abends in ein Buch zu vertiefen. Freiwillig hatte sie dieses Leben aufgegeben; eine tiefe, uneingestandene Sehnsucht hatte sie dazu bewogen, die Gelegenheit zu einer Veränderung zu ergreifen. Jetzt schlug ihr das Herz bis zum Hals, und mit wildem Blick starrte sie auf die Allee, als ob dort plötzlich auch noch David Henry auftauchen könnte. Auf einmal wurde ihr klar, daß sie den Brief deswegen nie losgeschickt hatte. Was, wenn er oder Norah Phoebe zurückhaben wollten? Dieser Gedanke flößte ihr eine Angst ein, die kaum auszuhalten war.
»Wie haben Sie mich gefunden?« wollte Caroline wissen. »Und warum haben Sie mich überhaupt gesucht?«
Al zuckte erschrocken mit den Achseln. »Ich habe in Lexington vorbeigeschaut, um hallo zu sagen. Die Wohnung war leer. Sie wurde gerade gestrichen. Ihre Nachbarin hat mir |138| dann erzählt, daß Sie vor drei Wochen ausgezogen sind. Ich glaube, ich mag einfach keine Geheimnisse, weil ich andauernd an Sie denken mußte.« Er hielt inne, als sei er hin- und hergerissen, ob er fortfahren sollte oder nicht. »Außerdem, zum Teufel, Caroline, ich mag Sie, und ich dachte, daß Sie wahrscheinlich irgendwie in Schwierigkeiten stecken, wenn Sie sich so aus dem Staub machen. Jedenfalls waren Ihnen die Probleme ins Gesicht geschrieben, wie Sie da so auf dem Parkplatz standen. Ich dachte, ich könnte Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein …«
»Mir geht es gut. So. Und was denken Sie jetzt?« antwortete sie und bereute sofort, so schroff gesprochen zu haben. Es dauerte eine ganze Weile, bis Al wieder sprach.
»Ich glaube, vielleicht habe ich mit einigen Dingen falsch gelegen«, druckste er herum. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich dachte, wir haben uns gut verstanden, Sie und ich.«
»Das stimmt«, gab Caroline zu. »Ich bin nur so erschrocken. Ich glaubte doch, daß ich alle Verbindungen abgebrochen hätte.«
Da sah er sie an und blickte ihr in die Augen. »Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht«, beruhigte er sie. »Falls Sie davor Angst haben sollten, daß jemand anderes Sie findet. Außerdem wußte ich, wo ich suchen mußte, und Glück hatte ich auch noch. Ich habe angefangen, in den Hotels, die ich kenne, nach einer Frau mit Baby herumzufragen. Jedesmal bin ich in ein anderes Hotel gegangen, und letzte Woche habe ich einen Volltreffer gelandet. Da, wo Sie übernachtet haben, hat sich die Frau vom Empfang an Sie erinnert. Sie geht übrigens nächste Woche in Rente.« Er hielt Daumen und Zeigefinger einen winzigen Spaltbreit auseinander. »Ich war so dicht davor, Sie für immer zu verlieren.«
Caroline nickte und sah die Frau hinter der Rezeption mit ihrem weißen, sorgfältig toupierten Haar und den schimmernden Perlenohrringen wieder vor sich. Fünfzig Jahre lang hatte ihre Familie
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