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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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dieses Motel geführt. Die Heizlüftung ratterte |139| die ganze Nacht, und die Wände waren ständig feucht, so daß sich die Tapeten gelöst hatten. Man könne heutzutage nicht mehr wissen, wer als nächstes durch die Tür treten würde, hatte die Frau geklagt, als sie ihr die Schlüssel gereicht hatte.
    Al nickte in Richtung der hellblauen Motorhaube des Fairlane. »Als ich den Wagen sah, wußte ich, daß ich Sie gefunden habe«, sagte er. »Wie geht’s Ihrem Baby?«
    Vor ihren Augen tauchte der leere Parkplatz wieder auf. Sie dachte an das Licht auf dem Schnee und wie es verblaßte und erinnerte sich an den Moment, als seine Hände sanft auf Phoebes winziger Stirn ruhten.
    »Möchten Sie hereinkommen?« hörte sie sich fragen. »Ich wollte sie gerade wecken. Ich werde Ihnen einen Tee kochen.«
    Caroline führte ihn den engen Bürgersteig entlang und dann die Treppen zur Veranda hinauf. Sie ließ ihn im Wohnzimmer warten und erklomm die Treppe zum ersten Stock. Ihr war schwindelig, und sie fühlte sich unsicher auf den Beinen, als ob ihr plötzlich bewußt geworden wäre, daß sich die Erde drehte und auch ihre kleine Welt mit sich nahm, wie sehr sie sich auch dagegenstemmen mochte. Sie wechselte Phoebes Windel und spritzte sich selbst Wasser ins Gesicht, um sich zu beruhigen.
    Al saß am Eßzimmertisch und sah aus dem Fenster. Als sie die Treppe herunterkam, wandte er sich ihr zu, und sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Sofort streckte er die Arme nach Phoebe aus und beteuerte lautstark, wie groß und wie hübsch sie geworden sei. Diese Begrüßung ließ Carolines Herz vor Freude höher schlagen, und auch Phoebe, der die dunklen Locken ins Gesicht fielen, lachte freudig. Al griff unter sein Hemd und zog ein Medaillon aus durchsichtigem Plastik heraus, auf dem in türkisen Buchstaben »Grand Ole Opry« geschrieben stand. Er hatte die Plakette mit dem Logo des traditionsreichen Country-Senders in Nashville erstanden. »Kommen Sie mit«, hatte er sie |140| damals halb im Scherz eingeladen, obwohl sein Angebot ernst gemeint gewesen war. Und jetzt, nach diesem langen Weg, den er auf der Suche nach ihr zurückgelegt hatte, stand er vor ihr.
    Phoebe machte glucksende Geräusche und Greifbewegungen. Ihre Hände fuhren über Als Nacken, sein Schlüsselbein und sein dunkel kariertes Hemd. Caroline registrierte nicht, was da gerade vor sich ging; doch plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Seine Worte traten in den Hintergrund und verschmolzen mit Leos Schritten über ihr und dem Rauschen des Verkehrs draußen, Geräusche, die Caroline im nachhinein für immer mit Glück verbinden würde.
    Phoebe griff nach dem Medaillon. Dabei schlug sie nicht, wie am Morgen, in der Luft umher, sondern schob, indem sie Als Brust als Widerstand benutzte, die Plakette Stück für Stück mit den Fingern in ihre Handfläche, bis sie die Faust darum schließen konnte. Verzückt von ihrem Erfolg, riß sie so fest an seinem Band, daß Al seine Hand schützend hob.
    Caroline verspürte ein kurzes freudiges Brennen und griff sich auch an den Hals.
    So ist es richtig, dachte sie. Greif danach, greif nach der ganzen Welt.

|141| 7. Kapitel
    Mai 1965
    N ORAH LIEF VOR IHM. FLACKERND WIE DAS SON NENLICHT bewegte sie sich durch den Wald. Weiß und hellblau leuchtete es zwischen den Bäumen auf: Da war sie und dann wieder verschwunden. David folgte ihr. Ab und zu bückte er sich, um Steine aufzuheben. Er sammelte rauhhäutige Drusen, Schieferplatten mit eingeprägten Fossilien, und einmal fand er eine Pfeilspitze. Jeden einzelnen Stein wog er einen Moment lang in den Händen und erfreute sich an seinem Gewicht und seiner Kühle, bevor er ihn in die Tasche gleiten ließ. Als Junge waren die Regale in seinem Zimmer mit Steinen gefüllt gewesen, und bis heute konnte er nicht an ihnen vorbeigehen, konnte sich ihre Mysterien nicht entgehen lassen, obwohl er sich mit Paul, der in einer Trage vor seiner Brust saß, und der Kamera, die an seiner Hüfte schwang, nur umständlich bücken konnte.
    Weit vorn blieb Norah stehen, um ihm zu winken, bevor sie kurz darauf in einer Wand aus glatten grauen Steinen zu verschwinden schien. Auf einmal spuckte dieselbe Wand mehrere Menschen aus; einen nach dem anderen und alle mit blauen Schirmmützen bekleidet. Als David näher trat, bemerkte er, daß die Treppe, die zu einer natürlichen Steinbrücke führte, dort begann. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, warnte ihn eine Frau, die ihm entgegenkam.

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