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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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»Es ist steiler, als man denkt, und auch rutschig.« Völlig außer Atem, legte sie eine Pause ein und drückte die Hand auf ihr Herz.
    David, dem aufgefallen war, wie blaß und kurzatmig sie war, hielt an. »Entschuldigen Sie, ich bin Arzt. Fühlen Sie sich nicht wohl?«
    |142| »Herzrasen«, wehrte sie ab. »Hab ich schon mein ganzes Leben lang.«
    Er nahm ihr rundliches Handgelenk und fühlte ihren Puls. Er war schnell, aber regelmäßig, und er wurde langsamer, als er die einzelnen Schläge zählte. Herzrasen – die Leute benutzten den Begriff, wann immer sie beschreiben wollten, daß ihr Herz schneller als gewöhnlich schlug. Aber er wußte sofort, daß die Frau nicht ernsthaft in Gefahr schwebte. Anders als seine Schwester, der schwindelig geworden war und die keine Luft mehr bekommen hatte, sobald sie auch nur durch das Zimmer gerannt war. »Herzprobleme« hatten es die Ärzte in Morgantown genannt und dabei bedauernd die Köpfe geschüttelt. Genauer hatten sie es nicht erklärt, und das war auch nicht nötig gewesen, da sie nichts dagegen tun konnten. Jahre später, an der Universität, hatte sich David ihre Symptome ins Gedächtnis gerufen und bis spät in die Nacht gelesen, um seine eigene Diagnose aufzustellen: entweder eine Verengung der Aorta oder eine Anomalie der Herzklappen. Seine Schwester June hatte sich langsam bewegt und immer um Atem gerungen. Mit den Jahren hatte sich ihr Zustand verschlechtert, und in den Monaten kurz vor ihrem Tod war ihre Haut fast bläulich gewesen. Sie hatte Schmetterlinge geliebt und gerne mit geschlossenen Augen in der Sonne gestanden, das Gesicht den warmen Strahlen zugewandt. Sie hatte es gemocht, selbstgemachtes Gelee auf dünnen Salzcrackern zu essen, die ihre Mutter aus der Stadt mitbrachte. Ständig lief sie, selbst erfundene kleine Melodien vor sich hin summend, umher. Ihr Haar war hellblond, fast weiß, wie Buttermilch. Noch Monate nachdem sie gestorben war, war er nachts aufgewacht, weil er sich eingebildet hatte, ihre dünne Stimme zu hören, die wie der Wind in den Kiefern klang.
    »Sie sagen, Sie haben das schon immer?« fragte er die Frau ernst und ließ ihre Hand los.
    »Ja, solange ich denken kann«, antwortete sie. »Die Ärzte haben mir gesagt, daß es nichts Schlimmes ist – nur lästig.«
    |143| »Gut. Es wird Ihnen gleich besser gehen. Aber überanstrengen Sie sich nicht.«
    Sie dankte ihm, strich Paul über den Kopf und ermahnte ihn: »Und Sie passen jetzt auf den kleinen Mann da auf.« David nickte und ging weiter. Während er durch die feuchten Steinwände kletterte, schützte er Pauls Kopf mit seiner freien Hand. Er war guter Stimmung; es fühlte sich gut an, jemandem in Not helfen zu können, etwas, das er denen, die er am meisten liebte, scheinbar nicht geben konnte. Paul klopfte leicht gegen seine Brust und grabschte nach dem Umschlag, den er in seine Tasche gestopft hatte: Er barg den Brief von Caroline Gill, den er heute morgen in seinem Büro vorgefunden hatte. Ein einziges Mal hatte er ihn überflogen. Dann war Norah ins Zimmer gekommen, und er hatte ihn weggesteckt und versucht, seine Erregung zu verbergen. »Uns geht es gut«, hatte da gestanden, »Phoebe hat, Gott sei Dank, keine Probleme mit dem Herzen.«
    Jetzt umfaßte er Pauls Finger sanft. Sein Sohn sah auf und blickte ihn aus großen, neugierigen Augen an, und sein Herz wurde weit.
    »Hey du«, flüsterte David lächelnd. »Ich habe dich lieb, kleiner Schatz. Aber bitte iß das nicht, okay?«
    Paul beobachtete ihn aufmerksam, dann drehte er den Kopf und lehnte seine Wange gegen Davids Brust, und David genoß die Wärme, die von dieser Berührung ausging. Paul trug einen weißen Hut, den Norah in den ruhigen Tagen nach ihrem Unfall, in denen beide sehr verhalten gewesen waren, mit gelben Enten bestickt hatte. Mit dem Auftauchen jeder neuen Ente war David etwas ruhiger geworden. Er sah ihren Schmerz, die Leere, die er in ihrem Herzen hinterlassen hatte, als er den Film aus seiner neuen Kamera entwickelte: Ein Zimmer ihres alten Hauses nach dem anderen war darauf zu sehen, Nahaufnahmen von Fensterrahmen, die scharf umrissenen Schatten der Treppenbrüstung, Bodenfliesen, verzerrt und schief, und die unregelmäßige Blutspur, |144| die Norahs Füße hinterlassen hatten. Er hatte die Fotos samt den Negativen weggeworfen, aber sie verfolgten ihn, und er fürchtete, daß sie sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. Er hatte sie belogen; er hatte ihre Tochter weggegeben. Daß

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