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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Konsequenzen darauf folgten, erschien ihm schrecklich, aber gerecht. Doch die Tage waren verstrichen, fast ein Jahr nach der Geburt schien Norah langsam wieder sie selbst zu sein. Sie arbeitete im Garten, lachte mit Freundinnen am Telefon oder hob Paul mit ihren schlanken, anmutigen Armen aus dem Laufgitter.
    David, der sie beobachtete, sagte sich, daß sie glücklich sei.
    Nun sprangen die Enten mit jedem Schritt fröhlich auf und leuchteten in der Sonne, als David die engen, schattigen Stufen verließ und auf die Felsbrücke, die sich über die Schlucht spannte, hinaustrat. Norah stand in kurzen Jeansshorts und einem ärmellosen weißen Hemd in der Mitte der Brücke, und die Spitzen ihrer hellblauen Turnschuhe berührten die Felskante. Langsam, mit der Grazie einer Tänzerin, öffnete sie die Arme und bog mit geschlossenen Augen ihren Oberkörper zurück, als ob sie sich dem Himmel darböte.
    »Norah!« rief er entsetzt aus. »Das ist gefährlich!«
    Paul drückte seine kleinen Hände gegen Davids Brust. »Fäh«, ahmte er David nach, als der »gefährlich« gerufen hatte, ein Babywort, mit dem er Steckdosen, Treppen, Feuerstellen, Stühle und nun eben den tiefen, schroffen Abgrund, der sich am Rande der Brücke vor seiner Mutter auftat, bedachte.
    »Es ist wahnsinnig!« rief Norah zurück und ließ die Arme fallen. Dann drehte sie sich um, wobei kleine Kiesel unter ihren Schuhen ins Rutschen kamen und über die Kante sprangen. »Sieh dir das an!«
    Vorsichtig trat er auf die Brücke hinaus und stellte sich neben sie an die Kante. Weit unter ihnen, auf dem Weg, wo einst ein Fluß gerauscht hatte, bewegten sich winzige Gestalten. Heute erstreckte sich hier eine sanfte Hügellandschaft bis |145| zum tiefblauen Horizont, die in hundert satten Grüntönen leuchtete. Er holte tief Luft und kämpfte mit einem Anflug von Schwindel, der es ihm unmöglich machte, auch nur einen kurzen Blick auf Norah zu werfen. Er hatte ihr etwas ersparen und sie vor Verlust und Schmerz bewahren wollen, ohne zu verstehen, daß der Verlust sie trotzdem verfolgen würde – beharrlich, ihr ganzes Leben umgestaltend wie ein Strom. Auch seinen eigenen Schmerz, der mit dunklen Fäden mit seiner Vergangenheit verwoben war, hatte er nicht vorausgesehen. Wenn er an die Tochter dachte, die er weggegeben hatte, hatte er das ernste Lächeln und das fahle Haar seiner Schwester vor Augen.
    »Laß mich ein Foto machen«, drängte er Norah und setzte langsam einen Fuß nach dem anderen zurück. »Stell dich in die Mitte der Brücke, da ist das Licht besser.«
    »Eine Minute noch«, erwiderte sie mit den Händen in den Hüften. »Es ist so schön hier.«
    »Norah«, mahnte er ungeduldig. »Du machst mich ganz nervös.«
    »Ach, David«, seufzte sie, ohne ihn anzusehen, und wiegte den Kopf hin und her. »Warum bist du immer so besorgt? Ich fühle mich prima.«
    Statt zu antworten, achtete er auf die Bewegungen seiner Lunge und lauschte dem tiefen, unregelmäßigen Rhythmus seines Atems. So hatte er sich gefühlt, als er Carolines Brief öffnete, der in ihrer kantigen Handschrift an das alte Büro adressiert und mit einer Nachsendeanschrift halb überklebt war. Er war in Toledo, Ohio, gestempelt worden. Sie hatte drei Fotos beigelegt, auf denen ein Kleinkind in einem rosa Kleid zu sehen war. Als Absender war ein Postfach in Cleveland angegeben, nicht in Toledo. Er war noch nie in Cleveland gewesen, dort, wo Caroline Gill offensichtlich mit seiner Tochter lebte.
    »Komm, wir gehen ein Stück weiter«, forderte er Norah schließlich noch einmal auf. »Ich mache ein Foto.«
    |146| Sie nickte, aber als er die sichere Mitte der Brücke erreicht hatte und sich nach ihr umdrehte, stand sie noch immer an der Kante und lächelte ihn mit verschränkten Armen an.
    »Fotografier mich hier«, sagte sie. »Mach, daß es so aussieht, als würde ich schweben.«
    Die goldenen Felsen strahlten Hitze ab, und David, der in die Hocke gegangen war, fummelte an den Rädchen der Kamera herum. Paul wand sich in seiner Trage und fing an, seinem Ärger Luft zu machen. An all das, was unsichtbar und nicht aufgezeichnet worden war, würde sich David später erinnern, als das Bild im Entwicklungsbad langsam auftauchte und Form annahm. Er fing Norah mit dem Sucher ein. Wind spielte in ihren Haaren, ihre Haut hatte eine gesunde, sonnengebräunte Farbe, und er wunderte sich darüber, was sie alles vor ihm verheimlicht hatte.
    Die Frühlingsluft war warm und duftete. Sie wanderten zurück,

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