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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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daß sie nur eine einfache weiße Bluse, einen blauen Rock und keinen Schmuck trug. Wo oder wann auch immer Norah sie traf, Kay Marshall sah immer aus wie aus dem Ei gepellt, wirkte ruhig und kühl, und selbst ihre Kinder waren perfekt herausgeputzt und benahmen sich wohlerzogen. Kay gehörte zu der Sorte Mütter, von der auch Norah einmal geglaubt hatte, sie würde dazu zählen, die jeder Situation mit lockerer, instinktiver Ruhe begegneten. Norah bewunderte und beneidete sie. Manchmal ertappte sie sich sogar bei dem Gedanken, daß ihre Ehe besser laufen würde und sie und David glücklicher wären, wenn sie gelassener, sicherer und mehr wie Kay sein würde.
    »Sehr gut«, bekräftigte sie und betrachtete das Baby, das aus großen, fragenden Augen zu ihr aufsah. »Wie groß Angela geworden ist!«
    Ohne lange zu überlegen, nahm Norah die Kleine auf den Arm, Kays zweite Tochter, die wie ihre Schwester in sahniges Rosé gekleidet war. Das Baby war leicht und warm, patschte mit kleinen Händen auf ihre Wange und lachte dabei. Zärtlich erinnerte sich Norah daran zurück, wie Paul in diesem Alter gewesen war, an seinen Geruch von Seife und Milch und an seine weiche Haut. Sie ließ ihren Blick kurz über den Spielplatz schweifen. Paul rannte schon wieder, spielte Fangen. Jetzt, da er in der Schule war, hatte er sein eigenes Leben; außer wenn er krank war oder sie ihm eine Gutenachtgeschichte vorlesen sollte, wollte er nicht mehr auf ihren Schoß kommen und mit ihr schmusen. Es erschien |170| ihr unwirklich, daß er jemals so klein gewesen sein sollte, und es war noch unwirklicher, daß er zu einem Jungen mit einem roten Fahrrad herangewachsen war, der Stöcke in Pfützen stieß und so wunderschön sang.
    »Heute ist sie zehn Monate alt geworden«, erklärte Kay stolz. »Kannst du dir das vorstellen?«
    »Nein«, erwiderte Norah. »Es geht so schnell.«
    »Bist du mal an der Uni gewesen?« fragte Kay. »Hast du gehört, was da vor sich geht?«
    Norah nickte. »Gestern abend hat Bree angerufen.« Während sie, den Telefonhörer in einer Hand, die andere Hand auf der Brust, vor dem Fernseher gestanden hatte, hatte sie die körnigen Nachrichten auf dem Bildschirm verfolgt: Vier Studenten waren in Kent State erschossen worden. Sogar in Lexington hatten sich die Spannungen über Wochen aufgebaut, und die Zeitungen waren voll von Berichten über Krieg, Proteste und Unruhen. Die Welt war unbeständig geworden, die Kräfte verlagerten sich.
    »Es ist beängstigend«, stellte Kay ruhig fest, wobei sie eher mißbilligend als bestürzt klang; im gleichen Tonfall hätte sie davon sprechen können, daß sich irgend jemand scheiden ließ. Sie nahm Angela, küßte sie auf die Stirn und legte sie sanft in ihren Kinderwagen zurück.
    »Das finde ich auch«, stimmte Norah ihr zu. Obwohl sie den Tonfall imitierte, fühlte sie sich von den Unruhen persönlich betroffen. Sie schienen ein Spiegel all dessen zu sein, was in ihr seit Jahren umging. Noch einmal versetzte ihr der Neid einen scharfen, tiefen Stich. Kay lebte in völliger Unkenntnis, nie hatte sie einen Verlust erlitten, und ihr Glaube daran, daß sie vor Leid gefeit war, war unerschüttert; Norahs Welt hatte sich mit Phoebes Tod verändert. Der Verlust und die Gefahr eines erneuten Verlustes dämpfte all ihre glücklichen Momente, so daß sie statt Freude nur noch Erleichterung empfand. David sagte ständig, sie solle sich entspannen, eine Haushaltshilfe einstellen und sich selbst nicht überfordern. |171| Er ärgerte sich zunehmend über ihre Projekte, über die Ausschüsse, denen sie beisaß, und ihre Pläne. Aber Norah ertrug es nicht, nichts zu tun zu haben; dann wurden ihre Sorgen übergroß. Deshalb vereinbarte sie Treffen und versuchte ihre Tage sinnvoll auszufüllen, wobei sie immer das Gefühl hatte, daß etwas Schreckliches passieren würde, wenn sie nicht ständig auf der Hut war. Am schlimmsten war dieses Gefühl am späten Vormittag; fast immer brauchte sie dann einen schnellen Drink – Gin, manchmal Wodka –, um sich in den Nachmittag hinüberzuretten. Sie liebte die Ruhe, die der Alkohol ihr schenkte und die sich wärmend in ihr ausbreitete. Vor David hielt sie die Flaschen ängstlich versteckt.
    »Na ja. Jedenfalls vielen Dank für die Einladung zu eurem Fest«, fuhr Kay fort. »Wir kommen sehr gerne, werden uns aber ein bißchen verspäten. Kann ich irgend etwas mitbringen?«
    »Nur euch beide«, antwortete Norah. »Es ist schon fast alles fertig, außer daß

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