Die Tochter des Fotografen
hatte, und die dadurch eine ausweglose Situation noch verschlimmerte.
Norah glitt auf den Vordersitz und schlug die Tür zu. Er tastete seine Tasche nach dem Autoschlüssel ab und förderte |163| statt dessen seine letzte Druse, glatt, grau und von der Erde geformt, ans Licht. Sie wärmte seine Hand und ließ ihn an all die Geheimnisse denken, die die Welt bereithielt: Steinschichten, die unter Erde und Gras verborgen waren, stumpfe Steine mit versteckten glitzernden Herzen.
|167| 8. Kapitel
Mai 1970
E R HAT EINE BIENENALLERGIE«, INFORMIERTE NORAH die Lehrerin, wobei sie Paul hinterhersah, der über das junge Gras des Spielplatzes lief. Er kletterte die Rutsche hinauf, verweilte einen Moment an der höchsten Stelle, während seine kurzen weißen Ärmel im Wind flatterten, und segelte dann hinunter. Als er wieder Boden unter den Füßen hatte, sprang er vor Freude auf. Die Azaleen standen in voller Blüte, und die Luft, warm wie eine Berührung, war erfüllt vom Brummen der Insekten und dem Gezwitscher der Vögel. »Sein Vater ist auch allergisch. Es ist sehr gefährlich.«
»Keine Sorge«, antwortete Frau Throckmorton. »Wir werden gut auf ihn aufpassen.«
Frau Throckmorton war jung – sie hatte gerade die Ausbildung beendet –, dunkelhaarig, drahtig und voller Enthusiasmus. Sie trug einen bauschig fallenden Rock und flache, robuste Sandalen, und mit den Augen war sie immer bei den Kindern auf dem Spielplatz. Außerdem machte sie einen kompetenten, zielstrebigen und freundlichen Eindruck und schien unerschütterlich zu sein. Trotz alledem hatte Norah nicht das Gefühl, daß sie genau wußte, was sie tat.
»Einmal hat er eine Biene aufgehoben«, insistierte sie, »eine
tote
Biene, die auf der Fensterbank lag, und Sekunden später ist er wie ein Luftballon angeschwollen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Henry«, wiederholte Frau Throckmorton etwas weniger geduldig. Denn schon hatte sie sich in Bewegung gesetzt, um mit ihrer glockenklaren Stimme beruhigend auf ein Mädchen einzureden, das Sand in den Augen hatte.
|168| Norah verweilte ein bißchen in der Frühlingssonne und beobachtete Paul. Rotwangig, die Arme eng an den Körper gepreßt – als Kleinkind hatte er in dieser Stellung auch geschlafen –, spielte er Fangen. Zwar war er dunkelhaarig, aber viele sagten, daß er wie Norah aussehe, weil er so hellhäutig war und ihren Körperbau hatte. Auch sie sah sich in ihm, trotz gewisser Ähnlichkeiten mit David. Sein Kiefer, die Form seiner Ohren und die Art, wie er mit verschränkten Armen dastand und seiner Lehrerin zuhörte, erinnerten an David. Zum weitaus größten Teil aber war Paul einfach er selbst. Er liebte Musik und summte den ganzen Tag Melodien, die er sich ausgedacht hatte. Obwohl er erst sechs Jahre alt war, hatte er in der Schule schon Solostücke vorgetragen. Dabei war er mit einer Unschuld und einem Selbstvertrauen auf die Bühne getreten, die Norah erstaunt hatten. Im Auditorium hatte seine schöne Stimme so klar wie die Melodie eines Baches geklungen.
Nun blieb er stehen, um sich neben einen anderen kleinen Jungen zu hocken, der mit einem Stock feuchte Blätter aus einer Pfütze fischte. Sein rechtes Knie war aufgeschürft, und das Pflaster hatte sich gelöst. Auf seinem kurzen dunklen Haar glänzte das Sonnenlicht. Norah sah ihrem Sohn zu, der ernst und völlig in sein Spiel versunken war, und sie fühlte sich überwältigt von der einfachen Tatsache, daß er auf der Welt war: Paul, ihr Sohn, hier im Sonnenlicht.
»Norah Henry! Genau dich wollte ich gerade sprechen.«
Sie fuhr herum und sah Kay Marshall in einer enganliegenden rosa Hose und einem rosa und cremefarbenen Pullover, mit flachen goldenen Schuhen und dazu passenden, schimmernden Ohrringen. Sie schob ihr Neugeborenes in einem antiken Kinderwagen aus Korbgeflecht vor sich her, während ihre älteste Tochter Elizabeth neben ihr lief. Elizabeth war eine Woche nach Paul zur Welt gekommen, in dem plötzlichen Frühling, der auf den seltsamen, ebenso unerwarteten Schnee folgte. Heute war sie ganz in rosa gepunkteten, |169| gerafften Musselin gehüllt, und an ihren Füßen glänzten weiße Lacklederschuhe. Ungeduldig löste sie sich von Kays Seite und rannte über den Spielplatz auf die Schaukeln zu.
»Heute ist so ein schöner Tag«, sagte Kay, während sie ihr hinterhersah. »Wie geht es dir, Norah?«
»Gut«, erwiderte Norah und mußte den Drang, ihr Haar zu richten, unterdrücken. Auf einmal war sie sich voll bewußt,
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