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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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ihrem eigenen Tun, in Louisville wiedergefunden hatte. Ihr Haar war vom Wind zerzaust gewesen, und Paul hatte verängstigt und still auf |174| dem Rücksitz gesessen, während der Gin schon fast zur Neige ging. »Da ist der Fluß«, hatte sie gesagt und mit Pauls kleiner Hand in ihrer dagestanden und in das wirbelnde, schlammige Wasser gestarrt. Dann hatte sie verkündet, daß sie jetzt in den Zoo gingen, als hätte sie das schon die ganze Zeit vorgehabt.
    Von einer unbändigen Sehnsucht getrieben, verließ sie die Schule und fuhr in die Stadt, durch baumbestandene Straßen, an der Bank und dem Juwelier vorbei. Als sie das Reisebüro passierte, drosselte sie die Geschwindigkeit. Dort hatte sie sich gestern vorgestellt. Sie hatte das Stellengesuch in der Zeitung gesehen und war von den Hochglanzplakaten im Schaufenster in dem niedrigen Backsteinbau angelockt worden: glänzende Strände und Gebäude, strahlende Himmel und Farben. Ehe sie davorstand, hatte sie den Job nicht wirklich haben wollen, aber das änderte sich plötzlich. Als sie in ihrem bedruckten Leinenmantel, die weiße Handtasche auf dem Schoß, beim Vorstellungsgespräch saß, hatte sie mehr als alles andere gewünscht, eingestellt zu werden. Das Büro gehörte einem Mann namens Peter Warren, der um die Fünfzig war und eine Halbglatze hatte. Er tippte die ganze Zeit über mit dem Bleistift auf seinem Klemmbrett herum und machte Scherze über die wilden Streiks. Sie hatte gespürt, daß er sie mochte, auch wenn sie keine Erfahrung und nur einen Abschluß in Englisch hatte. Heute wollte er ihr Bescheid geben.
    Hinter ihr hupte jemand, und Norah beschleunigte. Wenn sie dieser Straße folgte, würde sie die Auffahrt zum Highway erreichen. Aber als sie in Reichweite der Universität kam, wurde der Verkehr dichter. Die Straßen waren voller Menschen, und sie kam nur noch im Schneckentempo voran, bis sie ganz an die Seite fahren mußte. Sie stieg aus dem Auto und ließ es stehen, wo es war. In der Ferne, aus dem Inneren des Campus, erhoben sich dunkel Stimmen. Sie schwollen zu einem rhythmischen Sprechchor an, kraftvoll wie die |175| Knospen der Bäume, die kurz davor standen aufzuplatzen. Ihr war, als hätte sie eine Antwort auf ihre eigene Unruhe und Sehnsucht erhalten, und so reihte sie sich in den Strom der bewegten Menschenmassen ein.
    Ein Geruch von Schweiß und Patschuli erfüllte die Luft, und die Sonne schien warm auf ihre Arme. Sie dachte an die Grundschule, die nur eineinhalb Kilometer entfernt war, an die Ordnung dort und die Alltäglichkeit. Kay Marshall kam ihr in den Sinn und deren mißbilligender Tonfall. Trotzdem setzte sie ihren Weg fort, wobei Schultern, Arme und Haare sie streiften. Der Strom kam zum Stehen und verdichtete sich. Eine Menschenmenge sammelte sich am Ausbildungsgebäude für Reserveoffiziere, wo zwei junge Männer, von denen einer ein Megaphon in der Hand hielt, auf den Stufen standen. Auch Norah hielt an und reckte den Hals, um die Ereignisse verfolgen zu können. Einer der jungen Männer, in Jackett und Krawatte, hielt die amerikanische Flagge hoch. Ihre Streifen und Sterne flatterten im Wind. Dann beobachtete sie, wie der andere, ebenso gut angezogene junge Mann eine Faust an ihren Saum hob. Zuerst sah man nur das heftige Flimmern der Hitze. Dann fing der Stoff Feuer, und vor dem Hintergrund der Blätter und dem Blau und Grün des Tages loderten die Flammen.
    Vor Norahs Augen lief das Geschehen wie in Zeitlupe ab. Durch die wabernde Luft sah sie Bree, die sich am Rande der Menschenmenge entlangbewegte und Flugblätter verteilte. Ihr langes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und wippte gegen ihr weißes Oberteil – ein Hemd, das üblicherweise von Landarbeitern getragen wurde. Sie ist so schön, dachte Norah, als sie die Entschlossenheit und Aufregung in Brees Gesicht erblickte, bevor es aus ihrem Sichtfeld verschwand. Wieder schlug Neid in ihr hoch wie eine Flamme: Sie beneidete Bree um ihre Sicherheit und Freiheit.
    Norah bahnte sich einen Weg durch die Menge. Noch zweimal erspähte sie ihre Schwester, bevor sie sie endlich erreichte. |176| Bree stand auf dem Bordstein und unterhielt sich mit einem jungen Mann mit rötlichen Haaren. Sie waren so ins Gespräch vertieft, daß Bree, als Norah sie schließlich am Arm faßte, sich überrascht umdrehte und eine lange Zeit mit leerem Gesichtsausdruck vor ihrer Schwester stand, bevor sie sie erkannte.
    »Norah?« rief sie erfreut. Sie legte ihre Hand auf die Brust des

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