Die Tochter des Fotografen
den Deckel. Wortlos gingen sie dann weiter, während sie in Gedanken das Schlangengeld zählten. Im Sommer und Spätherbst gab es Wochen, in denen sie auf diese Art fünfundzwanzig Dollar verdienten. Das Geld wurde für Essen ausgegeben; wenn sie nach Morgantown in die Klinik fuhren, wurde auch das davon bezahlt.
»David!«
Norahs Stimme drang schwach, aber deutlich an sein Ohr und holte ihn aus der Vergangenheit in den hellichten Tag. Er stützte sich auf die Ellenbogen und sah sie wie gelähmt am äußersten Rand des reifen Erdbeerfeldes stehen und auf den Boden starren. Ein Adrenalinstoß jagte durch ihn hindurch, gefolgt von Angst: Klapperschlangen mochten sonnige Baumstämme wie den neben Norah. Sie legten ihre Eier in das verrottende Holz. Er warf einen schnellen Blick auf Paul, der immer noch ruhig im Schatten schlief, sprang auf und rannte los. Disteln zerkratzten seine Knöchel, und Erdbeeren zerplatzten weich unter seinen Füßen. Schon im Laufen griff er in seine Hosentasche und schloß die Faust um den größten Stein. Als er nah genug war, um den dunklen Umriß der Schlange auszumachen, schleuderte er ihn, so fest er konnte. Der stumpfe Stein flog, sich um die eigene Achse drehend, in einem großen Bogen langsam durch die Luft. Er verfehlte die Schlange um fünfzehn Zentimeter, sprang auf, und sein purpur glitzerndes, lebendiges Herz kam zum Vorschein.
»Was, um Himmels willen, tust du da?« fragte Norah. Keuchend sah er zu Boden. Statt der Schlange erblickte er einen dunklen Stock, der an der trockenen Rinde des Stammes lehnte.
|159| »Ich dachte, du hättest mich gerufen«, antwortete er verwirrt.
»Das habe ich auch.« Sie zeigte auf einen Flecken mit blassen Blumen, der genau hinter der Schattenlinie im Dunkel lag. »Aronstab. Die Blumen, die deine Mutter so geliebt hat. David, du machst mir angst.«
»Ich dachte, es wäre eine Schlange«, erklärte er, auf den Stock deutend, und schüttelte noch einmal den Kopf, um sich von der Vergangenheit zu befreien. »Eine Klapperschlange. Ich glaube, ich habe geträumt. Ich dachte, du brauchst Hilfe.«
Sie sah ihn verständnislos an, und er versuchte den Traum endgültig abzuschütteln. Auf einmal kam er sich schrecklich lächerlich vor. Der Stock war nur ein Stock, nichts weiter. Der Tag erschien ihm lächerlich normal. Vögel sangen, und die Blätter der Bäume bewegten sich leicht im Wind.
»Warum hast du von Schlangen geträumt?«
»Ich habe sie früher gejagt«, erzählte er. »Um Geld zu verdienen.«
»Um Geld zu verdienen?« wiederholte sie ungläubig. »Geld für was?«
Da war sie wieder, die Distanz zwischen ihnen, eine Kluft, die er nicht überwinden konnte. Geld für Essen und Fahrten in die Stadt. Sie stammte aus einer anderen Welt; sie würde das nie verstehen.
»Sie haben mir geholfen, meine Ausbildung zu bezahlen, diese Schlangen«, log er.
Sie nickte, schien erst mehr fragen zu wollen, unterließ es dann aber. »Komm, wir gehen«, forderte sie ihn auf und rieb sich die Schulter. »Wir holen Paul und fahren nach Hause.«
Sie gingen über das Feld zurück und packten ihre Sachen. Norah trug Paul, er den Picknickkorb. Sein Vater hatte im Büro des Arztes gestanden, und die grünen Dollarnoten waren wie Blätter auf den Tisch gefallen. Jede einzelne erinnerte |160| David an die Schlangen, an das Peitschen ihrer Klappern, an ihre Rachen, die sich zu einem vergeblichen V öffneten, an die Kühle ihrer Haut in seinen Händen und an ihr Gewicht. Schlangengeld. Er war ein Junge von acht oder neun Jahren, und das war sein Beitrag.
Das und June beschützen. »Paß auf deine Schwester auf«, ermahnte ihn seine Mutter und schaute dabei vom Herd auf. »Füttere die Hühner, mach ihren Käfig sauber, und jäte das Unkraut im Garten. Und paß auf June auf.«
David folgte ihren Anweisungen, war aber nicht mit ganzem Herzen bei der Sache. Er behielt seine Schwester zwar immer im Auge, verhinderte es aber nicht, daß sie im Schmutz wühlte und ihn sich in ihr Haar rieb. Er tröstete sie nicht, wenn sie über einen Stein stolperte und sich den Ellenbogen aufschlug. Seine Liebe zu ihr war so eng mit seinem Groll verwoben, daß er beides nicht voneinander trennen konnte. Wegen ihres Herzens und der Erkältungen, die sie sich zu jeder Jahreszeit zuzog, war sie ständig krank. Trotzdem war es immer June gewesen, die ihn erwartet hatte, wenn er, mit seinen Büchern über dem Rücken, den Weg von der Schule heraufkam. June war es auch, die an seinem
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