Die Tochter des Fotografen
Gesicht ablesen konnte, wie sein Tag gewesen war, und die alles darüber wissen wollte. Sie liebte es, ihn mit ihren kleinen Fingern zu tätscheln, und oft strich eine Brise durch ihr langes, glattes Haar.
An einem frostigen Wochenende kam er dann nach Hause und fand die Hütte leer vor. Ein Waschlappen hing noch auf einer Seite der Badewanne. Ausgekühlt und hungrig setzte er sich auf die Veranda und wartete. Viel später, fast dämmerte es schon, erblickte er seine Mutter, die mit verschränkten Armen den Hügel herunterkam. Sie sprach kein Wort, bis sie die Stufen erreicht hatte, dann sah sie zu ihm auf und sagte: »David, deine Schwester ist gestorben. June ist tot.« Ihre Haare waren straff nach hinten gebunden, eine Ader pulsierte an ihrer Schläfe, und sie hatte gerötete Augen vom Weinen. |161| Sie trug einen dünnen Pullover, den sie fest um sich gezogen hatte, und sagte: »David, sie hat uns verlassen.« Als er aufstand und sie in die Arme nahm, brach sie weinend zusammen, und auf sein »Wann?« antwortete sie: »Vor drei Tagen, am Dienstag. Ich bin frühmorgens aus dem Haus gegangen, um Wasser zu holen. Als ich zurückkehrte, war das Haus still, und ich wußte sofort, daß sie uns verlassen hatte. Sie hat einfach aufgehört zu atmen.«
Er hielt seine Mutter umschlungen und wußte einfach nichts mehr zu sagen. Ein Gefühl der Taubheit überlagerte den Schmerz tief in seinem Innern, und er konnte nicht weinen. Er legte seiner Mutter eine Decke über die Schultern, machte ihr einen Tee und ging zu den Hühnern, wo er Eier fand, die sie nicht aufgesammelt hatte. Er legte sie in einen Korb, fütterte die Hühner und melkte die Kuh. Er tat all diese gewohnten Handgriffe, aber als er das Haus wieder betrat, war es noch immer dunkel und still. June war noch immer weg.
»Davey«, rief ihm seine Mutter später aus dem Dunkel zu. »Geh du zur Schule. Lerne etwas, das den Menschen hilft.« Ihre Worte erregten seinen Zorn. Er wollte sein eigenes Leben führen, unbelastet von diesem alles verdunkelnden Verlust. Gleichzeitig fühlte er sich schuldig, weil June unter einem Hügel von Schmutz in der Erde lag, während er noch immer hier stand. Er war am Leben, er konnte seinen Herzschlag spüren und die Luft, die durch seine Lungen strömte. »Ich werde Arzt«, erklärte er. Zuerst antwortete seine Mutter nicht darauf, aber nach einer Weile nickte sie, erhob sich und zog ihren Pulli wieder fester um sich. »Davey, du mußt die Bibel nehmen und mit mir dort hochgehen und die Worte sprechen. Ich möchte, daß die Worte feierlich und richtig gesprochen werden.« Und so gingen sie zusammen den Hügel hinauf. Als sie oben angekommen waren, war es bereits dunkel geworden. Er stand unter den Kiefern, hörte das Flüstern des Windes hoch in den Bäumen, und beim flackernden Licht |162| der Petroleumlampe las er: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.« Seine Mutter weinte, und sie gingen schweigend den Abhang hinunter zum Haus, wo er einen Brief für seinen Vater aufsetzte, um ihm die Nachricht mitzuteilen. Am Montag brachte er ihn zur Post und kehrte in das bunte Treiben der Stadt zurück. An einem Schalter, dessen Eichenholz von einer ganzen Generation Handeltreibender glatt poliert worden war, warf er den schlichten weißen Brief ein.
Als sie endlich den Wagen erreicht hatten, stieg Norah nicht sofort ein, sondern begutachtete ihre Schulter, die in der Sonne dunkelrot geworden war. Sie trug eine Sonnenbrille, so daß er ihren Gesichtsausdruck nicht deuten konnte, als sie ihn musterte.
»Du mußt nicht den Helden spielen«, griff sie ihn an. Ihre Worte wirkten glatt, und er merkte ihnen an, daß sie sich den Wortlaut schon zurechtgelegt hatte, daß sie ihn vielleicht sogar heimlich einstudiert hatte, während sie gelaufen waren.
»Ich spiele nicht den Helden.«
»Nein?« Sie sah weg. »Ich glaube aber, daß du das tust. Aber es ist auch meine Schuld. Lange Zeit wollte ich beschützt werden. Ich erkenne das jetzt. Aber nun will ich das nicht mehr. Du mußt mich nicht ständig beschützen, ich hasse das.«
Mit diesen Worten nahm sie den Kindersitz und drehte sich wieder weg. In dem gesprenkelten Licht griff Paul nach ihren Haaren, und David geriet in Panik. Fast wurde ihm schwindlig angesichts all dessen, was er nicht wußte, und all dessen, was er wußte, aber nicht ändern konnte. Und heftiger Zorn überkam ihn. Er richtete sich gegen ihn selbst, aber auch gegen Caroline, die nicht tat, worum er sie gebeten
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