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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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der Upside Down Society zusammen. Caroline war gerührt. Erst waren die Menschen einzeln und zögernd zu ihren Treffen gekommen. Es waren Leute, die Sandra und sie in Lebensmittelgeschäften und Bussen angesprochen hatten. Dann hatte sich ihr Engagement herumgesprochen, und man fing an, sie anzurufen. Neben Sandra, die ihr blondes Haar streng zurückgekämmt hatte und deren Gesicht ernst und blaß war, saß ihr Anwalt, Ron Stone. Caroline setzte sich auf den freien Platz neben sie.
    »Du siehst müde aus«, flüsterte sie der Freundin zu.
    Sandra nickte. »Ausgerechnet heute hat Tim Grippe bekommen. Meine Mutter mußte extra aus McKeesport anreisen, um ihn zu hüten.«
    Bevor Caroline antworten konnte, schwang die Tür wieder auf, und die Mitglieder der Schulbehörde traten ein, einer nach dem anderen. Sie waren entspannt, scherzten miteinander und schüttelten sich die Hände. Als endlich jeder saß und die Versammlung zur Ordnung gerufen worden war, stand Ron Stone auf und räusperte sich.
    »Alle Kinder haben das Recht auf eine Ausbildung«, begann er, eine vertraute Formulierung benutzend. Der Beweis, den er führte, war klar und stichhaltig. Trotzdem beobachtete Caroline, daß die Gesichter der Gegenseite ausdruckslos und maskenhaft blieben. Sie mußte an Phoebe denken, die gestern abend, einen Bleistift in der Hand, am Tisch gesessen |216| und ihren Namen geschrieben hatte – in schwankenden Buchstaben, von hinten nach vorn und über das ganze Blatt verteilt; aber sie standen dort, schwarz auf weiß. Die Männer des Ausschusses sortierten ihre Papiere und räusperten sich. Als Ron Stone in seiner Rede eine Pause einlegte, ergriff ein junger Mann mit dunklem welligem Haar das Wort.
    »Ihr Einsatz für diese Sache ist bewundernswert, Mr. Stone. Die Mitglieder unseres Ausschusses erkennen alles, was sie soeben vorgebracht haben, an, und wir schätzen das Engagement und die Hingabe, mit der sich die Eltern um dieses Anliegen kümmern. Aber diese Kinder sind geistig zurückgeblieben, darauf läuft schließlich doch alles hinaus. Ihre Leistungen, so bedeutend sie auch sein mögen, sind in einem geschützten Umfeld entstanden, unter Aufsicht von Lehrern, die ihnen zusätzliche, vielleicht sogar ungeteilte Aufmerksamkeit widmen konnten. Das scheint mir ein entscheidender Punkt zu sein.«
    Caroline sah Sandra an. Auch dieses Argument war ihnen vertraut.
    »›Geistig zurückgeblieben‹ ist ein abwertender Ausdruck«, antwortete Ron Stone in ruhigem Ton. »Die Entwicklung dieser Kinder ist verzögert, ja, das bestreitet niemand. Aber sie sind nicht dumm. Keiner von uns kann mit Bestimmtheit sagen, was sie wirklich leisten können. Die besten Chancen für ihre Entwicklung und für ein gesundes Wachstum haben sie, wie alle Kinder, in einem Lernumfeld ohne vorherbestimmte Grenzen. Wir sind heute nur hier, um eine Gleichstellung dieser Kinder zu erbitten.«
    »Ah, Gleichstellung, ja. Aber dafür fehlen uns die Mittel«, warf ein dünner Mann mit spärlichem grauem Haar ein. »Um alle gleich zu behandeln, müßten wir alle aufnehmen, eine Flut zurückgebliebener Individuen, die das System überschwemmen würde. Sehen Sie es mal von der Seite.«
    Er teilte Kopien eines Berichtes aus und startete eine Kosten-Nutzen-Analyse. Caroline holte tief Luft. Es wäre nicht |217| gut, wenn sie jetzt die Fassung verlieren würde. Gefangen zwischen den Scheiben der alten Fenster, brummte eine Fliege. Carolines Gedanken wanderten wieder zu Phoebe, ihrem liebenswerten, lebhaften Kind: Phoebe, die Finderin verlorener Gegenstände, ein Mädchen, das bis fünfzig zählen, sich anziehen und das Alphabet aufsagen konnte, dem es zwar schwerfiel zu sprechen, das aber sofort wußte, in welcher Stimmung Caroline war.
    »Begrenzt …«, sagte eine Stimme, »die Schulen überschwemmen … eine Belastung der Ressourcen und eine Bürde für intelligentere Kinder.«
    Caroline war der Verzweiflung nahe. Diese Männer würden es nie verstehen, sie würden nie etwas anderes in Phoebe sehen können als ein Kind, das anders war, langsam im Sprechen und im Erlernen neuer Dinge. Wie konnte sie ihnen zeigen, wieviel Wunderbares in ihrer Tochter steckte, wenn sie mit hochkonzentrierter Miene auf dem Wohnzimmerteppich saß und einen Turm aus Holzklötzen baute, während das weiche Haar ihre Ohren umspielte, oder wenn sie eine Langspielplatte auf den kleinen Plattenspieler legte, den Caroline ihr gekauft hatte, und, gefangen von der Musik, über den glatten

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