Die Tochter des Fotografen
sich an wie eine duftige Wolke. Caroline informierte Doro kurz darüber, was sich zugetragen hatte, wobei ihr die häßlichen Worte noch im Kopf herumgingen. Doro, die spät dran war, drückte ihren Arm. »Laß uns heute abend ausführlicher darüber reden.«
|220| Caroline genoß die Fahrt nach Hause. Die Blätter an den Bäumen und die Blüten des Flieders zogen wie Verwehungen aus Schaum und Feuer vor den dunkleren Hügeln vorbei. In der Nacht zuvor hatte es geregnet; der Himmel war von einem klaren, tiefen Blau. Caroline parkte in der Allee und war enttäuscht, daß Al noch nicht da war. Zusammen gingen Phoebe und sie durch das flimmernde Licht der Platanen, begleitet vom durchdringenden Gesumm der Bienen. Caroline setzte sich auf die Verandatreppe und schaltete das Radio ein. Phoebe fing mit ausgestreckten Armen, zurückgelegtem Kopf und der Sonne zugewandtem Gesicht an, sich auf dem zarten Gras zu drehen.
Caroline, die immer noch versuchte, die Spannungen und Bitterkeit des Morgens abzuschütteln, sah ihr dabei zu. Es gab Grund zur Hoffnung, aber nach all den Jahren, in denen sie versucht hatte, die Wahrnehmung der Öffentlichkeit von Menschen mit Downsyndrom zu ändern, bewahrte sie sich eine gewisse Vorsicht.
Phoebe kam herübergerannt und legte ihre Hände an Carolines Ohr, um ihr ein Geheimnis zuzuflüstern. Caroline konnte die Worte nicht verstehen, hörte nur das atemlose, aufgeregte Flüstern, bevor Phoebe wieder zurück in den Sonnenschein rannte, daß ihr rosa Kleid nur so wirbelte. Das Sonnenlicht setzte rötliche Glanzlichter in ihr dunkles Haar, und plötzlich hatte Caroline Norah Henry unter der grellen Klinikbeleuchtung vor Augen. Einen Moment lang quälten sie Erschöpfung und Zweifel.
Phoebe beendete ihren Tanz und streckte die Arme aus, um ihre Balance zu halten. Dann gab sie einen Schrei von sich und rannte wie der Blitz über den Rasen, die Stufen hinauf, wo Al mit einem bunten Päckchen für Phoebe in der einen, und einem Strauß Flieder für Caroline in der anderen Hand stand.
Ihr Herz schlug schneller. Verläßlich und beständig war er Woche für Woche aufgetaucht, um sie mit einer Handvoll Blumen oder einer anderen Aufmerksamkeit zu erfreuen. Mit seiner |221| langsamen, hartnäckigen Art hatte er sie geduldig umworben, wobei ihm eine so aufrichtige Freude im Gesicht stand, daß sie es nicht übers Herz bringen konnte, ihn abzuweisen. Trotzdem hatte sie sich bisher bewußt zurückgehalten, weil sie dieser Liebe, die so unerwartet über sie hereingebrochen und aus einer so ungeahnten Richtung gekommen war, nicht traute. Jetzt tat ihr Herz einen Freudensprung, als sie ihn sah – welche Angst hatte sie davor gehabt, daß er diesmal nicht wiederkommen würde.
»Schöner Tag«, stellte er fest und beugte sich zu Phoebe nieder, die ihre Arme zur Begrüßung um seinen Hals schlang. Das Päckchen enthielt ein hauchdünnes Schmetterlingsnetz mit einem geschnitzten Griff, den sie sofort packte, um damit auf eine mit dunkelblauen Hortensien bewachsene Böschung loszurennen. »Wie war das Treffen?«
Sie erzählte ihm alles, und er hörte aufmerksam zu und schüttelte den Kopf. »Gut, nicht jeder mag zur Schule gehen«, sagte er. »Ich jedenfalls bin nicht gerne zur Schule gegangen. Aber Phoebe ist so ein süßes Kind, sie sollten sie nicht ausschließen.«
»Ich möchte, daß sie einen Platz in der Welt findet«, erklärte Caroline, die auf einmal begriff, daß sie nicht an Als Liebe zu ihr, sondern an seiner Liebe zu Phoebe zweifelte.
»Liebes, sie hat bereits einen Platz. Nämlich hier. Aber trotzdem glaube ich, daß du recht hast. Du tust genau das Richtige, find ich, wenn du so für sie kämpfst.«
»Ich wünschte, du hättest eine bessere Woche gehabt«, sagte sie, als sie die Schatten unter seinen Augen bemerkte.
»Oh, ich bin immer noch der alte, keine Sorge«, winkte er ab und setzte sich neben sie auf die Stufen, wo er einen Stock aufhob, den er zu schälen begann. In der Ferne brummten Rasenmäher; Phoebes kleines Radio spielte »Love, love me do« von den Beatles. »Diese Woche habe ich dreitausendachthundertachtundfünfzig Kilometer ins Fahrtenbuch eingetragen. Das ist Rekord, selbst für mich.«
|222| Er würde sie wieder fragen, dachte Caroline, es war der Moment. Das Leben auf der Straße erschöpfte ihn, und er war dazu bereit, seßhaft zu werden. Sie sah, wie er mit schnellen, geschickten Bewegungen die Rinde vom Stock schälte, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
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