Die Tochter des Giftmischers - Poole, S: Tochter des Giftmischers - Poison
konnten.
17
Die Angst vor dem Entsetzlichen, das uns bei Morozzis Rückkehr erwartete, ließ meine Benommenheit weichen und verlieh mir neue Kräfte.
»Rasch«, stieß ich hervor, während meine Stimme in der Dunkelheit von den Mauern widerhallte, »wir müssen nach einem Ausweg suchen!«
Offenbar hatte David bereits einen Plan.
»Geht Ihr nach links. Ich übernehme die rechte Seite.«
Einen Moment lang war ich dankbar. Offenbar saß ich genau mit dem richtigen Mann in der Falle, der in jeder Lage einen kühlen Kopf behielt. In entgegengesetzter Richtung tasteten wir uns an den vier Seiten des fensterlosen Raums entlang, aber meine Hände fühlten nur glitschigen, kalten Stein.
In wenigen Minuten würde Morozzi zurückkommen. Und zwar in Begleitung der Soldaten, die bezeugen konnten, dass wir verkleidet in die Engelsburg eingedrungen waren. Obendrein besaß er mein Medaillon mit der giftigen Pastille. Dafür konnten weder ich noch Borgia glaubhafte Erklärungen abgeben.
Das Einzige, worauf ich in dieser Lage hoffte, war eine
Tür oder ein Gang, irgendetwas, das uns rettete. Doch ich fühlte nichts als glatten Stein.
»Ich glaube, ich weiß, wo wir sind«, sagte David in der Finsternis. Seine Stimme klingt überraschend gefasst, dachte ich erleichtert.
Meine dagegen zitterte ein wenig.
»Und wo?«
»Dies hier ist einer der Räume, von wo aus man die Gefangenen in die Zellen abseilt. Ich bin gerade über eine Falltür gestolpert.«
Es gab also einen Ausweg, doch leider führte er nur noch tiefer ins Grab, wie Morozzi sehr wohl wusste.
»Aber irgendwo muss es eine Verbindung geben«, beharrte ich. »Hinter diesem Raum gibt es doch bestimmt noch andere.«
»Dorthin führen vielleicht andere Gänge«, meinte David. »Diese Burg ist ein einziges Labyrinth. Jahrhundertelang wurde gebaut, ergänzt und wieder umgebaut. Manche Räume werden einfach versiegelt, außerdem hat man Wände versetzt und ganze Etagen abgesenkt oder aufgestockt. Ich glaube nicht, dass noch irgendjemand einen genauen Überblick hat.«
Wahrscheinlich hatte er recht. Selbst wenn man viele Jahre in diesem Gemäuer wohnte und freien Zugang zu allem hätte, würde man sich nicht zurechtfinden.
Plötzlich kam tiefe Verzweiflung über mich. Wahrscheinlich konnten wir unserem Schicksal nicht entrinnen. Ich schob den Gedanken fort, doch er kehrte wieder und zwang mich, dem Unvermeidlichen ins Gesicht zu sehen. An Davids Mut zweifelte ich nicht, und auch mir selbst traute
ich einige Standhaftigkeit zu. Aber genügte das, um der Folter zu widerstehen? Eine Quälerei, wie ich sie in Borgias Keller erlebt hatte, würde ich auf keinen Fall überstehen.
Und wenn ich redete – die Frage war eigentlich nur, wie lange ich durchhielt –, so waren die Juden dem Untergang geweiht. Sofia, Benjamin und alle anderen würden sterben. Morozzi hatte recht – das war die schreckliche Wahrheit. Sobald der Priester die Verschwörung gegen den Papst beweisen konnte, würde der Mob gegen das Ghetto wüten und alle Bewohner vernichten. Aber damit nicht genug. Ob mit oder ohne Edikt würde die gesamte Christenheit gegen die Juden aufbegehren.
Missversteht mich nicht, ich schätze mein Leben nicht höher ein als das jedes anderen. Nach dem Tod meines Vaters war ich in meiner Not bereit, alles aufs Spiel zu setzen, um ihm Gerechtigkeit zu verschaffen. Ein sehr selbstsüchtiger Entschluss. Doch heute lagen die Dinge anders. Was bedeutete es mir, wenn die Juden starben? Größtenteils waren sie nur anonyme Gesichter, mit denen ich mich nicht verbunden fühlte. Oder doch?
Ich hielt inne und ließ die Hände sinken. Dann überdachte ich meine Lage in aller Ernsthaftigkeit. In den Augen der Mutter Kirche ist Selbstmord eine Todsünde. Alles, was uns im Leben widerfährt, beruht auf Gottes Ratschluss. Durch einen Selbstmord stellt sich der Mensch über Gottes Willen und widerspricht der Schöpfung.
Nur zu lebendig stand mir Boccaccios Vision von Dantes siebtem Kreis der Hölle vor Augen, wo sich die Selbstmörder in Dornbüsche verwandeln, die für alle Ewigkeit von den Harpyien, den geflügelten Todesboten, zerzaust
werden. Die Armen werden nicht einmal beim Jüngsten Gericht erlöst, so unverzeihlich ist ihre Sünde.
Und doch … Was, wenn die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, nicht aus Eigennutz getroffen wurde? Wenn durch diese Tat Tausende oder mehr gerettet wurden? Ob Gott das eine Leben im Vergleich zu den zahllosen anderen nicht so leicht wie eine
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