Die Tochter des Giftmischers - Poole, S: Tochter des Giftmischers - Poison
Feder dünkte?
Inmitten meines Elends entdeckte ich einen schwachen Hoffnungsschimmer.
»Habt Ihr ein Messer?«, fragte ich vollkommen ruhig.
Ich konnte Davids Umriss nur schwach erahnen, aber seine Stimme klang klar.
»Habt Ihr etwas gefunden?«
»Nein«, antwortete ich knapp. David war klug, und er war sich ebenso wie ich über unsere Lage im Klaren. Ich vertraute darauf, dass er mich verstand.
Stille breitete sich aus. Dann sagte er:
»Ich habe ein Messer.«
Meine Brust krampfte sich zusammen. Ich musste die Arme um mich schlingen, weil ich plötzlich zitterte. Das Gift in der Pastille war tödlich. Ein solcher Tod war sicher nicht leicht, aber auf diese Weise würde zumindest kein Blut fließen.
»Wir haben nur wenig Zeit«, sagte ich.
Wieder trat Stille ein.
»Habt Ihr jemals von Masada gehört?«, fragte David nach einer Weile.
Ich vermutete, dass er mich ablenken wollte.
»Liegt das irgendwo in der Lombardei?«
Er lachte! Aber dann klärte er mich auf.
»Masada war eine Festung, auf einem Hügel im Heiligen Land. Jüdische Rebellen hatten dort viele Jahre den Römern Widerstand geleistet, doch als die Einnahme unmittelbar bevorstand, brachten sich die Rebellen um.«
»Wie bitte? Alle?« War Selbstmord für die Juden etwa keine Todsünde? Es gab so vieles, was ich nicht wusste.
»Alle«, bestätigte David. »Unter den Männern wurden Lose gezogen. Die Erwählten mussten die anderen töten, auch alle Frauen und Kinder. Anschließend töteten die Männer sich gegenseitig, und schließlich beging der Letzte Selbstmord.«
Mein Herz hämmerte gegen meine schmerzenden Rippen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es bedeutete, die liebsten Menschen einen nach dem anderen töten zu müssen. Hatten die Kinder vor Angst geschrien? Oder hatten ihre Mütter sie in den ewigen Schlaf gewiegt, bevor sie die eigene Kehle dem Messer darboten? Wie war es dem Letzten ergangen, als er in der Stille auf dem Hügel inmitten der Toten stand und dem Alptraum ein Ende setzte?
Sicher hat Gott ihm Vergebung gewährt und ihm im Licht des Herrn die ewige Ruhe geschenkt.
»Sollen wir Lose ziehen?«, fragte ich – und gebe gern zu, welche Bangigkeit mich bei dem Gedanken befiel. Was sollte ich tun, wenn er darauf einging und mir das Los zufiel?
Spontan legte David die Arme um mich, und ich erwiderte seine Geste. Und so standen wir einfach nur da, zwei Menschen am Rand des Abgrunds, die einander stützten, so gut sie es vermochten.
»Nein, Francesca«, sagte er leise. »Das ist nicht nötig.«
Vielleicht war ich letztlich doch ein Feigling, aber in
diesem Moment durchströmte mich grenzenlose Erleichterung. Und Dankbarkeit, dass dieser Mann die Bürde freiwillig auf sich nahm.
»Ich brauche noch einen Moment«, sagte ich.
Um zu beten? Um mit Gott zu handeln oder mit ihm zu rechten? Ich war mir nicht sicher.
Ich war völlig versunken, als ich plötzlich eine Stimme von oben hörte.
»Na endlich! Ich habe euch schon überall gesucht!«
Ihr mögt über meine Narretei spotten, aber eine Sekunde lang glaubte ich tatsächlich, dass ich dort in der Finsternis, am Rande des Todes, die Stimme des Allmächtigen vernommen hätte. Und der klang längst nicht so entrückt, wie man mir immer weisgemacht hatte. Nicht wie eine allmächtige Majestät, der man mit blinder Ehrfurcht begegnen musste. Eher hörte er sich an wie ein Hirte, der voller Sorge nach seinen lange vermissten Schäfchen suchte.
Auch wenn ich natürlich wusste, dass es eine Täuschung war, war mir so etwas noch nie passiert. Konnte der Schöpfer von Himmel und Erde vielleicht durch den Mund eines Menschen reden? Wie sonst sollte er sich mit den Menschen verständigen?
Erstaunt hob ich den Kopf. Ein helles Viereck leuchtete in der Finsternis, ganz oben in der übermannshohen Wand, fast unter der Decke. Und mitten in dem Viereck erkannte ich ein vertrautes Gesicht, das auf uns hinuntersah.
»Vittoro«, rief ich. »Wie …«
Ein dickes Tau entrollte sich direkt vor uns. »Später, Donna Francesca. Zuerst müssen wir von hier fort.«
David packte mich um die Mitte und hob mich in die
Höhe. Ich ergriff das Seil und kletterte um mein Leben. Mein Herz hämmerte, und meine Arme schmerzten von der Anstrengung, doch nach endlosen Minuten, in Wirklichkeit nur ein paar Augenblicke, erreichte ich endlich die Öffnung. Ich fühlte, wie Vittoro mich unter den Armen fasste und über die Kante in einen niedrigen Gang zog, in dem man kaum stehen konnte.
Kurz darauf
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