Die Tochter des Ketzers
allgemeinen Kommen und Gehen Ray nicht verlöre. Manch ein Ellbogen traf sie, manch Schulter schrammte schmerzhaft an ihrer. Sie war an- gewidert von so vielen menschlichen Leibern, von ihrem Gestank, ihrem Ächzen, ihren vielfältigen Lasten: Früchte, Gemüse und Fleisch, Waffen und Werkzeuge, Baumwolle und Tuch, das sowohl in das eine wie das andere Land transportiert wurde. Nie war es ihr angenehm gewesen, fremde Leiber zu erfühlen – doch der Ekel war heute so groß, dass sie mit sich zu kämpfen hatte, sich nicht augenblicklich umzudrehen, in einen stillen Winkel zu flüchten und dort zu warten, bis sich die Welt von so vielen Menschen gereinigt hätte.
Ray schien ihren Wunsch erahnt zu haben, noch ehe er in ihr gereift war, denn er führte sie geradewegs zur Kirche Sainte-Nazaire.
»Willst sicher ein Stündlein beten, während du auf mich wartest, habe ich recht?«
Dies war ihr lieb – desgleichen nicht zu fragen, was genau er zu erledigen gedachte.
So betrat sie die Kirche, finster und kühl und gefüllt mit jenem stickigen Kerzenqualm, der vertraut in Mund und Nase biss. Nicht nur, dass sich richtig anfühlte, was sie tat – es hüllte sie ein in jene Selbstverständlichkeit, die ihr in den letzten Wochen verloren gegangen war. Das hiesige Tun drängte nicht nach Entscheidung, noch zwang es Caterina Zweifel und Ängste auf.
Sie kniete direkt auf dem nackten Stein, sprach einige Pater noster und blickte sich erst dann, als der Rhythmus ihres Herzens sich auf vertraute Langsamkeit eingestellt hatte, genauer im Kirchenraum um. Trotz Rauch und Finsternis gewöhnten sich die Augen an das mangelnde Licht. Die Konturen wurden klarer und – nach ihrem Gefühl – sauberer, als wäre sie endlich wieder in einer Welt angekommen, wo alles Trübe kein Schmutz war, sondern nur die ehrfurchtsvolle Verschleierung des Höchsten.
Sie seufzte, presste das Bündel mit ihrem Schatz an sich, das sie nicht in Rays Wagen hatte lassen wollen, wiederholte die Gebete. Wie angenehm wäre es ihr gewesen, jetzt auch noch die stärkende Kommunion zu empfangen.
Ihr Vater hatte öfter als nur einmal im Jahr – zu Ostern, wie es beim gemeinen Volk üblich war – darauf gedrängt, desgleichen wie er vorher den Gang zur Beichte bestimmt hatte.
»Alle sollen sehen«, so wiederholte er häufig, »dass wir die Pflichten eines guten Katholiken wahrnehmen und regelmäßig anstatt nur jährlich vom Leib Christi nehmen.«
Caterina gedachte dieser Worte, suchte Frieden daraus zu ziehen wie aus dem Aufenthalt in dem heiligen Haus – und geriet plötzlich ins Stocken. Anders als ähnliche Erinnerungen an Pèi-res Weisungen schien sich diese gegen den Vorsatz zu sperren, ihrem ins Wanken geratenen Leben alte Gewissheiten zu beteuern.
... dass wir die Pflichten eines guten Katholiken ... die Pflichten eines guten Katholiken ...
Ihre Gedanken verknüpften diese Worte schließlich mit anderen. Mit Rays Worten. Wonach ihrer beider Großväter Ketzer gewesen wären und deren Söhne gegen dieses Erbe zu kämpfen versuchten – am Ende beide vergebens und vom beschädigten Ruf der Vorfahren zu Fall gebracht. Wonach die Frömmigkeit des einen nicht nur vom steten Bemühen um das Seelenheil zeugte, sondern von der Furcht, die Schatten der Vergangenheit nicht loszuwerden.
Mein Vater hasste die Ketzer, dachte sie entschlossen, er hat sie aus tiefstem Herzen verachtet, alles, wovon jene überzeugt waren, war für ihn Irrglauben, wie kann es sein, dass ...
Doch da hatte Caterina plötzlich nicht nur die Mahnung des Vaters, regelmäßig zur Kommunion und zur Beichte zu gehen, im Ohr – sondern auch andere Worte, diesmal von Lorda gesagte.
»Ich habe Angst, was aus dir wird«, hatte die dickleibige Amme oft gesagt. »Was, wenn deine Eltern nicht mehr für dich sorgen können? Ich weiß ja: Hätte er das Geld, dein Vater würde dich sogleich einem Kloster anvertrauen. Und wie gerne würde er selbst dort eintreten!«
»Aber er führt doch eine Ehe«, hatte Caterina überrascht geantwortet – nur mit dem ersten Teil seiner Pläne vertraut, »wie kann er ins Kloster gehen wollen?«
»Deine Eltern haben schon längst vor Gott gelobt, dass sie nur wie Bruder und Schwester zusammenleben«, hatte Lorda – freimütig wie stets – berichtet. »Josefsehe nennt man das, denn auch die Jungfrau Maria wurde von ihrem Gatten Josef nie berührt ... und solcherart beschmutzt. Und ins Kloster will dein Vater gehen, um seine Sünde abzubüßen.«
Damals hatte
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