Die Tochter des Königs
seine Mutter, als sie ihrer Tochter zu Hilfe kommen wollte, so fest geschlagen, dass sie gegen die Wand der Hütte fiel und reglos dort liegen blieb. Es war der dritte Mann, der das Mädchen vergewaltigt hatte.
Schaudernd spritzte Jess sich kaltes Wasser ins Gesicht, immer und immer wieder. Einen derart bildlichen, greifbaren Traum hatte sie noch nie gehabt. Sie war dabei gewesen. Hilflos, vor Angst wie gelähmt hatte sie zugesehen, wie die Männer den Körper des Mädchens wie eine Gliederpuppe liegen ließen, zu ihren Pferden gingen und davonritten.
»Mein Herz, kannst du mich hören?«
Hatte sie im Traum wirklich laut gesprochen? Sie wusste es nicht. Hatte sie das Mädchen wirklich in den Armen gewiegt? Auch das wusste sie nicht.
Stöhnend stellte sie sich unter die Dusche und ließ das Wasser auf ihren Kopf prasseln, bis ihr ganzer Körper taub
war. Dann erst drehte sie den Hahn zu und schlüpfte in ihren Bademantel.
Sie war auf halbem Weg nach unten, als ein Bild durch ihr Bewusstsein zuckte. Der Arm eines Mannes über ihrem Körper, der sie aufs Bett drückte. Sie war in ihrer Wohnung, im Schlafzimmer, sah nichts als das Kissen, das halb auf ihrem Gesicht lag, und sie hörte Musik. Eine ihrer eigenen CDs. Leise, beruhigend. Und dann ein Arm über ihren Brüsten, der sie aufs Bett presste.
Das war alles. Die Erinnerung war kaum aufgeflackert, schon war sie wieder verschwunden. Jess klammerte sich ans Geländer. Das Bild gehörte nicht zum Traum mit dem Mädchen. Das war ihre Wohnung, ihr Bett. Die Ärztin hatte ihr gesagt, dass die Erinnerung in Gestalt von Rückblenden oder Alpträumen zurückkehren könnte, wenn die langfristigen Folgen der Droge, mit der sie betäubt worden war, abklangen.
Auf unsicheren Beinen ging Jess weiter in die Küche. Automatisch füllte sie den Kessel und setzte ihn auf, holte Becher und Kanne aus dem Schrank. Mit zitternder Hand häufte sie das Kaffeepulver in die Kanne. Der Hof lag schon in voller Sonne, die Geranien im Trog neben der Tür zum Atelier wirkten fast durchscheinend im grellen Morgenlicht, das auf ihre Blütenblätter fiel. Dort, wo der alte Viehstall in den modernen Durchgang überging, warfen die unebenen Steine ein unregelmäßiges Schattenmuster. Jess runzelte die Stirn. Sie erkannte die Umrisse dieser alten Steine wieder. Sonnenlicht. Fackellicht. Die Art Fackel, aus der qualmender Rauch aufsteigt. Das war die Szene aus ihrem Traum. Abrupt setzte sie ihren Becher ab und ging in den Hof hinaus. Die weiche Bergluft duftete süß, roch nach Gras und wildem Thymian, nach Ginster und Schafen.
Barfuß ging Jess über die noch feuchten Pflastersteine und strich mit der Hand über das Gemäuer. In diesem Licht konnte man genau erkennen, wo die alte in die neue Mauer überging. Jess schloss die Tür auf, ging hinein und sah sich um. Es kam ihr in dem großen Raum ausgesprochen still vor.
»Hallo?« Jess ging zur Werkbank. Da war natürlich niemand. Eine Hummel flog durch die offene Tür herein, kreiste zweimal summend durch den Raum und verschwand wieder. »Hallo? Bist du da?« Jess wusste nicht genau, von wem sie eine Antwort zu hören erwartete. Vielleicht von dem kleinen Mädchen aus ihrem Traum, denn dieser Bau war irgendwann in der Vergangenheit der Ort der Vergewaltigung gewesen, die sie im Schlaf gesehen hatte. Davon war sie überzeugt.
In dem Moment, in dem sie wieder durch die Haustür trat, klingelte das Telefon.
»Jess? Ist bei dir alles in Ordnung?« Es war Steph. »In deiner Wohnung hat niemand abgehoben, also habe ich vermutet, dass du schon in Ty Bran bist. Ach, Jess, ich kann dir gar nicht sagen, wie super es hier ist! Ich habe schon so viel Tolles gemacht.«
Jess drehte sich so, dass sie in den sonnenbeschienenen Hof hinausgucken konnte. »Ich auch.« Sie verzog das Gesicht. »Ich vermute mal, du hast einen traumhaften Mann an Land gezogen?«
Vom anderen Ende der Leitung war ein Prusten zu hören. »Ich hab dir doch gesagt, Jess, von Männern habe ich die Nase voll. Auf Armeslänge liebe ich sie, aber dabei belasse ich es. Wenn man sie zu nah an sich ranlässt, machen sie viel zu viel Ärger.« Sie zögerte kurz. »Ist bei dir wirklich alles okay? Bist du auch nicht einsam? Wenn du etwas brauchst, vergiss nicht, du kannst immer zu Megan Price fahren. Sie
freut sich bestimmt, dich zu sehen, und sie kann dir mit allem helfen.«
»Steph …«
Jess fiel es bei ihrer Schwester immer schwer, sich Gehör zu verschaffen. Jahrzehntelang hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher