Die Tochter des Königs
Moment hätte sie am liebsten kehrtgemacht und wäre nach oben geflohen, Gänsehaut lief ihr über die Arme, ein Anflug von Panik stieg in ihr auf. Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen und weiterzugehen, hielt sich dicht an die Mauern, während die anderen Mitglieder der Gruppe den Führer umringten. Er sprach so schnell auf Italienisch, dass Jess sich gar nicht die Mühe machte, ihn zu verstehen; sie beschränkte sich darauf, sich umzusehen. Durch ein Loch im Gewölbe drang ein schwacher Lichtstrahl. Durch ebendieses Loch, so wusste sie aus ihrem Führer, waren die Gefangenen in den Kerker gestoßen worden; die Treppe hatte es damals noch nicht gegeben. Vor der hinteren Wand stand ein kleiner Steinaltar, im Boden davor war eine Vertiefung, die mit etwas Wasser gefüllt war. Dies war die Quelle, die laut ihrem Stadtführer am Abend vor dem Tod des heiligen Petrus entsprungen war, damit er seine Bewacher taufen konnte. Unversehens gaben sich die Besucher als Pilgerschar zu erkennen und sprachen gemeinsam ein Gebet. Einen Moment rissen sie Jess mit ihrer Andacht mit, und sie spürte die Heiligkeit dieses Ortes. Doch das dauerte nur wenige Sekunden, dann strömte die Gruppe wieder der Treppe und der frischen Luft entgegen. Einen Moment blieb Jess allein im Kerker zurück, spürte die Atmosphäre mit ihren vielen Erinnerungen, doch als die nächste Besuchergruppe auf der Treppe zu hören war, zwängte sie sich an ihr vorbei nach oben, begierig
darauf, nach draußen zu gelangen. Die Traurigkeit des Ortes berührte sie zutiefst, ebenso wie das Wissen, das Eigon und Julius nicht gehabt hatten - dass die Ereignisse, die sie durchlebt hatten, historisch außerordentlich bedeutsam gewesen waren.
Die Pension wirkte verwaist, als Jess zurückkam. Sie hatte sich etwas Gebäck gekauft, eine Tüte mit Feigen und ein paar Flaschen Wasser. Müde stieg sie zu ihrem Zimmer hinauf, stieß die Tür auf und trat ein. Sie stellte die Einkaufstüten auf dem Tisch ab, warf ihre Tasche aufs Bett und ging direkt ins Bad, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen.
Als sie wieder herauskam, lehnte Daniel an der Tür zum Flur. In der Hand hatte er den Schlüssel zu ihrem Zimmer. » Buongiorno, Jess. Hast du einen schönen Tag gehabt?«
Kurz schloss sie die Augen, zu entsetzt, um auch nur ein Wort herauszubringen.
Er lächelte. »Ein hübsches Zimmer hast du da, sehr ruhig. Als ich deine Schritte auf der Treppe gehört habe, bin ich kurzerhand im Schrank verschwunden, um dir Zeit zu lassen, wieder anzukommen.«
»Wie hast du mich hier gefunden?« Endlich hatte sie ihre Sprache wiedergefunden. Sie setzte sich auf den Rand des Stuhls, der am Schreibtisch stand. Ihre Beine zitterten. »Titus?«
»Nicht Titus. Nicht dieses Mal. Viel banaler und einfacher! Ich habe Carmellas Handy geklaut. Ich habe jeden angerufen, mit dem sie in der letzten Zeit gesprochen hat, und das Mädchen, das hier ans Telefon ging, bestätigte bereitwillig, dass du dich hier einquartiert hast.«
»Und was willst du machen, nachdem du jetzt hier bist?«
Er stand immer noch lässig an die Tür gelehnt. »Tja, das ist die Frage. Ich bin mir nicht ganz sicher. Überhaupt nicht sicher. Ich warte auf Anweisungen.«
»Anweisungen?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Plötzlich war sie sich sehr bewusst, dass sie im Bad ihre Leinenbluse ausgezogen hatte und jetzt zu ihrer Hose nur ein dünnes Hemdchen trug.
Er nickte. »Das ist das Problem. Titus will ständig mehr.«
»Daniel, du bist nicht Titus!«, sagte sie scharf. »Du bist ein guter Mensch, ein Lehrer, dem eine große Zukunft bevorsteht. Wenn diese Zukunft sich zerschlägt, ist das deine Schuld, nicht meine. Momentan weiß noch niemand irgendetwas. Warum lässt du es nicht dabei bewenden? Vergiss mich. Geh zurück zu Nat.«
Er schüttelte den Kopf. »Tja, das ist genau das Problem. Ich habe mit Nat gesprochen. Offenbar will die Polizei mit mir reden. Und was denkst du, aus welchem Grund?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ganz sicher nicht meinetwegen. Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich nicht angezeigt habe. Wenn irgendjemand bei der Polizei war, dann William, und weshalb, das weißt du so gut wie ich.«
»Ah ja, William. Aber dann gibt es noch Steph. Und Kim. Und Carmella.« Er zählte die Personen an den Fingern ab. »Und den ungemein liebenswerten Waliser nicht zu vergessen. Du hast sehr viele Freunde.«
Jess biss sich auf die Unterlippe. Als er das bemerkte, lächelte er vor Vergnügen. »Und
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