Die Tochter des Königs
tätigte, zu Fuß keine halbe Stunde. Er steckte sich ein paar Oliven in den Mund und blätterte weiter Carmellas Anruflisten durch. Wie er genau vorgehen sollte, hatte er noch
nicht beschlossen. Noch einen Fehlschlag konnte er sich nicht leisten. Und er hatte nur ein sehr kleines Zeitfenster, in dem er Jess finden konnte, bevor er sich wieder auf die Autobahn begab und nach Norden fuhr.
Er bestellte ein weiteres Glas Wein und beugte sich dicht über das Display, um Carmellas ungelöschte SMS besser lesen zu können. Der Schwerenöter Henrico war allem Anschein nach ihr Liebhaber; offenbar hatte er auch eine Ehefrau, von der Carmella wusste. Die beiden gingen sehr offen damit um. Daniel lachte in sich hinein. Wie zivilisiert. Ausgesprochen römisch. Er leerte sein Glas und bezahlte. Es war Zeit, die Pension genauer in Augenschein zu nehmen, um herauszufinden, wie er sie betreten und wo er sich, falls nötig, verstecken konnte. Auf dem Weg zur Tür schaute er verstohlen über die Schulter, ob ihn auch niemand beobachtete, dann ließ er das Handy in den Messingübertopf der großen Schusterpalme fallen, die neben der Tür stand. Erst als er auf die Straße hinaustrat, fiel ihm ein, dass er vielleicht seine Fingerabdrücke hätte abwischen sollen.
Bei der Pension angekommen, blieb er ein paar Minuten an der Ecke stehen und beobachtete die stille Gasse mit den alten Häusern, die in der Hitze vor sich hin döste. Die warmen Erdfarben waren hier und dort von alten Steinmauern unterbrochen. Die Haustür der Pension war offen. Ließen in Rom die Leute in der Mittagszeit alle die Türen offen stehen? Er klopfte kurz an und spähte hinein. »Hallo? Buongiorno? C’è qualcuno a casa? «
Das Foyer wirkte vornehm, es war mit Teppichen und erlesenen Antiquitäten ausgestattet und roch nach Bienenwachs. »Signora? Ist da jemand?« Er machte ein paar Schritte in den Flur.
Die Treppe, ein Meisterwerk an Eichenschnitzerei mit gewundenen Geländern und verzierten Pfosten, führte ins
kühle Innere des Hauses hinauf; es war offenbar völlig verwaist. Daniel ging nach oben.
Im obersten Stockwerk gab es zwei Türen, keine davon abgeschlossen. Staunend schüttelte er den Kopf. Das erste Zimmer, in das er schaute, war sauber und aufgeräumt und, soweit er feststellen konnte, momentan nicht vermietet. Lautlos ging er zur zweiten Tür und lauschte, ehe er leise anklopfte. Keine Antwort. Vorsichtig drehte er den Türknauf und schob sie auf. Im Zimmer war niemand. Auf dem Boden neben der Tür lag ein Rucksack, auf der Kommode entdeckte er eine Bürste und einen Kamm, und der pastellfarbene Pullover, der über der Stuhllehne hing, kam ihm bekannt vor. Er betrat das Zimmer und zog die Tür leise ins Schloss. Hinter einer der beiden Türen, die es in dem Zimmer noch gab, verbarg sich ein Schrank, in dem mehrere leere Kleiderbügel hingen. Die zweite Tür führte in ein kleines Bad. Jemand hatte einen Stapel frischer Handtücher auf den Rand des Waschbeckens gelegt. Daniel ging ins Zimmer zurück, betrachtete Jess’ Zuflucht und fragte sich, wo sie wohl sein mochte. Die Fensterläden waren vor der Hitze geschlossen. Er ging hinüber und stieß sie auf, so dass er durch einen schmalen Spalt zwischen den Häusern auf der gegenüberliegenden Seite eine rote Dachlandschaft sah, die hier und da von Baumwipfeln unterbrochen wurde. Lächelnd zog er die Fensterläden zu und drehte sich wieder ins Zimmer. Es würde viel zu einfach sein. Er brauchte nur zu warten, bis sie zurückkam.
Kapitel 26
E igon hatte so sehr von ihrer Kraft gezehrt, dass Jess völlig erschöpft war. Der Kopf tat ihr weh, ihr ganzer Körper verlangte nach Ruhe und Erholung. Als also das Zimmermädchen zum Saubermachen kam, nutzte Jess die Gelegenheit und verließ das Haus. Schließlich gab es immer noch mehrere Orte, die sie gern sehen wollte, oder vielmehr: die sie unbedingt sehen musste. Orte von großer historischer Bedeutung, an denen auch Eigon gewesen war. Daniel musste längst über alle Berge sein, folgte Rhodri quer durch Europa, und sie hatte Titus’ Versuche, Zugang zu ihren Gedanken zu bekommen, erfolgreich abgewehrt. Also konnte ihr nichts passieren. Niemand würde sie finden, und da sie auch nur zwei Stunden ausbleiben wollte, würde niemand von ihrem kleinen Ausflug erfahren. Als sie das Haus verließ, versteckt unter einem Sonnenhut und mit einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase, suchte sie die Straße in beiden Richtungen ab. Niemand achtete auf sie, davon
Weitere Kostenlose Bücher