Die Tochter des Königs
war sie überzeugt, und bevor sie das Haus verlassen hatte, hatte sie alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die ihr einfielen, um Titus aus ihrem Kopf fernzuhalten. Dieses Mal rezitierte sie T.S. Eliot.
Langsam ging sie auf den Fluss zu, immer Richtung Vatikan, wobei sie sich oft mühsam einen Weg durch die Menschenmassen bahnen musste. Irgendwo dort, am Fuß des
Mons Vaticanus, war Neros Zirkus gewesen, der Ort, an dem Melinus gestorben war. »Links gegenüber der Kirche«, wie ihr Reiseführer in aller Kürze mitteilte. Lächelnd betrachtete sie die große Basilika St. Peter. Seit alters galt der Petersdom als der Ort, an dem sich das Grab des heiligen Petrus befand. Und der Obelisk, der jetzt vor ihr in der Mitte der Piazza San Pietro stand und den Kaiser Caligula 36 n. Chr. nach Rom gebracht hatte, hatte jahrelang in der Mitte des Zirkus gestanden zum Gedenken an Petrus’ Tod. Jess war längst entfallen, dass sie eigentlich Gedichte rezitieren sollte, suchend blätterte sie im Stadtführer und schaute zwischendurch immer wieder zum Obelisken. Seit zweitausend Jahren stand er hier oder hier in der Nähe. Er hatte miterlebt, wie Löwen die sogenannten Staatsfeinde zerfleischten, hatte deren Schreie gehört, hatte gesehen, wie die Sägespäne zusammengekehrt und alle Spuren des Todes beseitigt wurden. Er hatte mit angesehen, wie ein alter Mann gekreuzigt wurde, hatte das Wachsen des Glaubens miterlebt, dem dieser Mann gefolgt war und zu dessen Ruhm Michelangelos großartige Kuppel, die alles Umstehende überragte, entstanden war. Langsam drehte Jess sich einmal um die eigene Achse. Sie wollte den Petersdom nicht betreten. Jetzt war nicht der richtige Moment, um Architektur und Kunst zu bewundern, und auch nicht, um daran erinnert zu werden, wie militant sich die Kirche entwickelt hatte. Das waren die Dinge, die Jess am Christentum nicht begreifen konnte: die Inquisition, der Fundamentalismus, die politischen Einlassungen, der unermessliche Reichtum. Die Kirche Petrus’ glaubte sie zu kennen, des Petrus’, der mit Jesus umhergewandert und ihm ein Fels gewesen war, die Kirche Eigons und Marcellus’. Es war eine Kirche der kleinen häuslichen Zusammenkünfte, der inständigen Gebete und der feierlichen Mahlzeiten mit Brot und Wein.
Damals waren dafür noch keine besonderen Gebäude nötig gewesen. Es war eine Kirche der Liebe gewesen, eine Kirche der Menschen und des Glaubens.
Allmählich wurde Jess bewusst, welch unglaubliche Erfahrung ihr gerade ermöglicht wurde. Voller Erstaunen lächelte sie. Wie viele der Leute, die hier wie sie mit ihren Stadtführern herumgingen, ihren Kameras, ihrer Liebe zu Rom, würden glauben, dass sie, Jess, den heiligen Petrus gesehen hatte? Ihn hatte reden hören? Mit gerunzelter Stirn ging sie weiter Richtung Fluss. Sie hatte in ihren Träumen erstaunliche Ereignisse miterlebt, das war ein ungemeines Privileg. Und jetzt hatte sie dieselbe Luft geatmet wie die Gestalten aus ihren Träumen, war dieselben Straßen entlanggegangen, hatte den Fluss gesehen, den auch sie gesehen hatten. Daniel war vergessen. Jess ging wieder ganz in ihrer Geschichte auf.
Einen Ort wollte sie noch sehen: den Mamertinischen Kerker, in dem Julius und sein Großvater eingesperrt gewesen waren und in dem später auch Petrus gefangen gehalten worden war, wie sie aus ihrem Führer wusste. Dort stand auch, dass man den Kerker noch besichtigen könne. Er lag unter einer alten Kirche am Fuß des Kapitolinischen Hügels. Den wollte, den musste sie sehen. Der Weg dorthin, Richtung Forum, führte nahe an ihrer Pension vorbei. Am Ende der Gasse blieb sie zögernd stehen. Eigentlich war sie müde und wünschte sich nichts sehnlicher, als in die Stille, die Sicherheit und die Kühle ihres Zimmers zurückzukehren. Andererseits wollte sie unbedingt den Kerker aufsuchen, und sie wusste, wenn sie erst einmal wieder in der Pension war, würde sie sich nicht mehr aufraffen, noch einmal nach draußen zu gehen. Kurz entschlossen überquerte sie die Straße und ging zur Campidoglio hinauf.
Neben dem Eingang zur Kirche, unter der sich das Gefängnis befand, führte eine lange Treppe nach unten. Nach kurzem Zögern stellte Jess sich ans Ende der kurzen Schlange von Wartenden. Offenbar wurden die Besucher nur in kleinen Gruppen eingelassen, und als Jess schließlich über die steilen Stufen in den Kerker hinunterstieg, wurde ihr auch der Grund klar. Hier unten war es beengt und dunkel, die Gewölbe waren sehr niedrig. Im ersten
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