Die Tochter des Königs
die anderen nicht zu wecken, und ließ sich in der Küche ein Glas Wasser einlaufen. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah in den vom Mond erleuchteten Garten hinaus. Ein Wind war aufgekommen, die Äste bogen sich und warfen tanzende Schatten über den Hof und das Atelier. »Togo? Glads?«, flüsterte sie. »Seid ihr da?«
Sie bekam keine Antwort.
Als sie nach einer ganzen Weile wieder ins Bett ging, schlief sie sofort ein.
Kapitel 31
A lso gab es Eigons Insel der Seligen doch. Julius lag da und schaute schläfrig zur Decke. Voller Staunen sah er Bäume und Kinder und wilde Tiere und mythische Wesen, die ausgelassen und ineinander verschlungen herumtollten. Ab und zu kam ein Kind mit flachsblondem Haar und wusch seinen Kopf mit einem weichen Tuch, das in etwas Kaltes, Beruhigendes getaucht war und nach exotischen Kräutern duftete. Er schlief ein und wachte wieder auf. Die Szene war dieselbe, doch statt der Sonne waren jetzt Schatten über ihm, und er hörte den Wind durch die Ritzen in der Tür pfeifen. Zeit war vergangen, das war ihm klar, aber wie viel? Jeder Gedanke strengte ihn an. Er versuchte sich zu bewegen und schrie vor Schmerz leise auf. Seine Schulter brannte, und in seinen Eingeweiden tat es so weh, als stocherte dort jemand mit einer Ahle herum.
Er war verwundet worden. Vage erinnerte er sich an einen Kampf. Gestalten, die in Scharen aus der Dunkelheit auftauchten. Schreie. Das Klirren von Eisen. Das entsetzliche Gurgeln, als jemand mit durchtrennter Kehle zu seinen Füßen starb. Er schauderte, und wieder durchfuhr ihn der Schmerz. »Im Namen Jesu Christi …« Es war Marcellus gewesen. Er war vom Feuer aufgestanden, um ihn mit einem Lächeln und einer Umarmung zu begrüßen, und sein
Segen war in Blut ertränkt worden. Julius stöhnte. Sofort erschien ein Licht. Die Schatten rasten über die Decke hinauf, und eine Gestalt trat an sein Bett. »Bist du wach, mein Sohn?« Ein alter Mann schaute zu ihm hinunter. Nicht sein Großvater. Ein Fremder. Dieser legte ihm sacht die Hand auf die Stirn und nickte. »Endlich scheinst du auf dem Weg der Besserung.«
Julius versuchte zu lächeln. Seine Lippen waren wund und rissig, seine Stimme heiser. Es kostete ihn einfach zu viel Mühe. Er schloss die Augen, und alles wurde schwarz.
Als er das nächste Mal aufwachte, war es wieder hell. Verwundert sah er sich im Zimmer um. Im Vergleich zur Decke waren die Wände recht schlicht, bemalt mit Säulen und Arkaden und hier und dort einem Baum. Von irgendwo in der Nähe hörte er ein Kratzen, eine Feder, die sich rasch über Pergament bewegte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte zu rufen. Er brachte zwar nur ein Krächzen zustande, aber es hatte die gewünschte Wirkung. Das Kratzen hörte auf, ein Schemel wurde verrückt. Dann erschien wieder der alte Mann in seinem Blickfeld. »Wach? Gut.« Er lächelte. »Jetzt versuch nicht, wieder zu reden, bis ich dir ein bisschen Medizin eingeflößt habe!« Was immer diese Medizin noch enthalten mochte, Mohnsaft war es auf jeden Fall, und der half ihm, sich vor dem Schmerz in den Schlaf zu retten. Julius spürte, wie er wieder in die Schwärze eintauchte. Sie war ein warmer, sicherer Ort. Im wachen Zustand war die Qual zu groß, als dass er sie ertragen konnte.
Als Jess wach wurde, prasselte Regen auf das Dach des Ateliers vor ihrem Fenster. Sie blieb liegen und versuchte, ihre Träume zusammenzufügen. Hatte sie Eigon gesehen? Nein, Julius. Julius, der dem Blutbad auf dem Bauernhof irgendwie
entkommen war und nicht wusste, dass seine Schwester und sein Großvater tot waren und dass die Frau, die er liebte, Rom in ihrer Verzweiflung verlassen hatte und in das Land ihrer Geburt zurückkehrte. Und William. Warum hatte sie von William geträumt? Sie würde ihn am Vormittag gleich anrufen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach fünf, zu früh, um aufzustehen. Zu früh, um an den kommenden Tag zu denken und an die Entscheidung, was sie mit dem Kinderskelett tun sollten.
Unruhig drehte sie sich um und zog sich die Decke über den Kopf. Rhodri hatte gemeint, sie sollten die Knochen irgendwo in der Nähe begraben. Nicht auf dem Friedhof, das Kind war ja heidnisch, aber an einem besonderen Ort. Einem heiligen Ort. »Auf der Farm gibt es sehr viele besondere Orte«, hatte er beim Abschied gesagt. »Die gibt es in Wales wie Sand am Meer. Im Grunde ist das ganze Land heilig!«
Vor der Haustür hatten sie sich verabschiedet, er hatte ihr einen Kuss
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