Die Tochter des Königs
schwiegen, kein Lüftchen regte sich. Nur eine Biene war zu hören, die ein blühendes Geißblatt umsummte.
Rhodri ging in die Hocke, um den Pfad genauer in Augenschein zu nehmen. »Siehst du irgendwelche Fußabdrücke?«
Jess lächelte. »Warst du als Kind bei den Pfadfindern?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber bei den Western, die ich im Fernsehen gesehen habe, war ich immer auf Seiten der Indianer. Es hat mich maßlos beeindruckt, wie sie jede Fährte verfolgen konnten. Schau.« Er deutete auf einen Abdruck in der weichen Erde am Rand des Wegs. »Hier ist vor kurzem jemand gegangen, jemand mit ziemlich kleinen Füßen, aber ohne festes Schuhwerk.«
Jess lachte laut. »Das könnte meine Mutter sein. In welche Richtung ist sie gegangen?«
»Bergauf, glaube ich. Komm.« Er ging ihr voraus, blieb aber nach wenigen Schritten wieder stehen. »Da, schau. Zwei
unterschiedliche Fußabdrücke, die nebeneinanderher gehen, und hier …« Er runzelte die Stirn. »Hier sind sie plötzlich tiefer, aber weniger genau. Jetzt laufen sie nebeneinanderher. Und hier, wo es schlammig ist, ist jemand ausgerutscht.«
Jess folgte ihm, sie hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl. »Warum laufen sie denn?«
»Na ja, es scheint ihnen niemand zu folgen. Sonst würden wir ja Abdrücke über den ihren sehen.« Er blieb stehen, sah sich um, hob die Hand, damit Jess still blieb, und lauschte angestrengt. »Ich hätte die Hunde mitbringen sollen. Sollen wir es riskieren, zu rufen?«
Jess presste die Lippen zusammen und nickte. Als er rief, fuhr sie dennoch zusammen und hielt sich die Ohren zu. Die Stimme eines erstklassigen Waliser Baritons ist dafür ausgebildet, weit zu tragen. Die Echos hallten mehrere Sekunden durch die Berge. Mit einem erschreckten Aufschrei stoben überall Vögel auf. Fasane rannten aus dem Gebüsch, Tauben flatterten aus den Baumwipfeln, ein einsamer Rabe krächzte empört, als er von einer Eiche mitten im Wald abhob. Zwei Eichelhäher flogen kreischend aus der alten Esche, die weit unten im Tal über den Bach herabhing. Als der Lärm der Vögel erstarb, lauschten sie wieder.
»Nichts?« Jess machte eine hilflose Geste.
Rhodri schüttelte den Kopf, dann schaute er wieder auf den Pfad. »Der seltsame Fußabdruck ist immer noch da. Schauen wir doch mal, wohin er führt.« Er ging ihr wieder voraus den steilen Anstieg auf den Gipfel zu, wo jemand vor rund hundert Jahren mehrere Redwoods gepflanzt hatte. Sie umstanden einen uralten Erdwall und ragten wie Wachposten über dem Waldgebiet auf.
Als sie sich dem Gipfel näherten, verlangsamte Rhodri seine Schritte. »Schau, da ist jemand.«
Jess starrte durch das Gebüsch. Er hatte Recht. In einiger Entfernung stand eine Gestalt mit dem Rücken zu ihnen und betrachtete den Fuß der alten Steinmauer, die rund um den Berg führte. »Das ist meine Mutter!«, sagte sie.
»Gott sei Dank!« Rhodri reckte den Daumen in die Luft. »Komm, Jess. Worauf wartest du noch?« Sie stiegen den restlichen Weg hinauf, und als sie näher kamen, rief er wieder.
Aurelia drehte sich um. Ihre Haare waren länger und womöglich noch wilder geworden, als Jess sie in Erinnerung hatte, ihre Haut war noch gebräunter. Sie trug einen Zigeunerrock und eine silberblaue Bluse, die Ärmel hatte sie bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, die Bluse war so weit aufgeknöpft, dass eine Kette aus Kristallen und Lapislazuli zu sehen war. Aurelia winkte. Als die beiden näher kamen, begann sie zu lächeln. »Jess, mein Schatz! Rhodri! Was in aller Welt macht ihr beide denn hier oben?« Sie ließ ihnen gar keine Zeit zu antworten, umarmte Jess nur kurz und packte sie dann an der Hand. »Schau mal da rein. Steph ist hineingekrochen. Wir haben jemanden rufen hören. Wir dachten, da unten sei ein Kind.«
Rhodri und Jess warfen sich einen Blick zu. Rhodri ging in die Hocke. »Ist alles in Ordnung, Steph?«, rief er. »Hast du eine Taschenlampe?«
Sie hörten ein schabendes Geräusch, dann war zwischen den Steinen Stephs Gesicht zu sehen. Langsam kroch sie ganz heraus. Als sie sich aufrichtete, sah Jess, dass sie völlig verdreckt war. Und sie bemerkte, dass sie leichenblass war und am ganzen Leib zitterte. Offenbar nahm sie Jess und Rhodri gar nicht richtig wahr. »Da liegt ein Skelett. Von einem Kind.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Es ist um die Steine gekrümmt. Es muss begraben gewesen sein, und ein Fuchs oder so hat es ausgegraben. Die Knochen liegen
verstreut herum.« Ihre Stimme zitterte. »O mein Gott,
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