Die Tochter des Königs
absolute Stille. Nicht einmal ein Vogel antwortete ihm. Er seufzte. Er wusste, wo sie sein würde. Er machte sich an den Aufstieg zum Gipfel, doch als er den Steinhaufen erreichte, wurde seine Hoffnung enttäuscht. Auch dort war nichts von ihr zu sehen. Er ging in die Hocke und spähte in den Hohlraum unter den Steinen. »Jess, bist du da?«, rief er leise. Als sich seine Augen nach ein paar Sekunden an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die Knochen ausmachen, die noch genau so dort lagen wie am Tag zuvor. Die Fingerhutstiele, die Jess danebengelegt hatte, waren mittlerweile verwelkt. Sonst war nichts dort. Er setzte sich auf und sah sich um. In der Ferne hörte er das leise Hämmern eines Spechts. Das Geräusch hallte durch die Bäume und verstärkte noch das Gefühl von Einsamkeit, das er plötzlich empfand. Jess war nicht wieder hier gewesen,
das spürte er. Und der kleine Junge war auch nicht hier, in keinerlei Hinsicht. Sein Geist war schon lange an einen anderen Ort gezogen. Seufzend setzte Rhodri sich auf einen alten moosbewachsenen Baumstamm. Der arme William. Ihnen hätte klar sein sollen, was passieren würde.
Und wo war Daniel jetzt? Das war die Frage. Rhodri spürte, wie sich eine unbehagliche Spannung in ihm ausbreitete. Wohin würde Daniel gehen, nachdem er William umgebracht hatte? Er würde London zweifellos sobald wie möglich verlassen wollen. Und es würde ihm vor allem um zweierlei gehen: sich der Polizei zu entziehen und Jess zum Verstummen zu bringen. Sicher würde er vermuten, dass Jess, wenn sie nicht bei William war, nach Ty Bran zurückgekehrt sein würde. Erschrocken schnappte Rhodri nach Luft. War er womöglich schon hier? Panik erfasste ihn. Jess war ganz allein hier gewesen. Vielleicht hatte er sie schon gefunden.
Hektisch sah er sich um. »Jess!« Sein Ruf hallte über die Berge und blieb unbeantwortet.
Julius saß auf einem Stuhl und schaute ins Feuer. Auf seinen Knien lag eine Decke, seine Hände zitterten. Er bemühte sich, sie um einen Becher mit warmem Wein zu legen und ihn an den Mund zu heben. Als die Frau ins Zimmer kam, merkte er, dass ihm Wein übers Kinn tropfte. Er schaute auf und versuchte zu lächeln, auch wenn ihm grausam bewusst war, dass sein halbes Gesicht wie gelähmt war. Er hatte um einen Spiegel gebeten. Sie hatten ihm keinen gegeben, doch sogar mit seinen zitternden Händen spürte er die derbe gezackte Narbe, die von seinem Auge bis zum Kinn lief.
»Der Wein ist gut«, sagte er. Es bereitete ihm Mühe, die Worte deutlich zu artikulieren. »Stärkend.«
»Gut. Das soll er auch sein«, sagte sie und trat näher, machte sich daran, den Tisch abzuräumen, nahm ihm beiläufig den halbleeren Becher aus der Hand, ehe er ihn fallen ließ, wie es am Tag zuvor passiert war, als ein anderer Becher auf den eleganten Bodenfliesen in tausend Scherben zersprungen war. »Fehlt Euch etwas?«
Es gelang ihm, den Kopf zu schütteln. Sie war eine beeindruckende Frau, groß, etwa Mitte vierzig, ihr dunkles Haar wurde an den Schläfen schon leicht grau, sie hatte es zu einem Knoten zusammengebunden, der offenbar ganz von selbst hielt, ohne kunstvolle Kämme und Nadeln. Außerdem hatte sie die sanften, fähigen Hände einer Heilerin. Mühsam brachte er ein Lächeln zustande. »Und wann darf ich den Arzt sehen, der mich versorgt hat?«
Ruhig erwiderte sie seinen Blick. »Er steht vor Euch.«
Er schaute verblüfft drein. »Nein. Ich habe einen Mann gesehen. Einen alten Mann mit weißen Haaren.«
»Mein Apotheker.« Sie lächelte etwas bemüht. »Er macht meine Heilmittel und kopiert die Rezepte, um sie an andere Ärzte in der Stadt zu verteilen. Aber macht Euch keine Sorgen. Ich habe eine richtige Ausbildung erhalten. Die Stiche in Eurer Wange sind die ordentlichsten, die Ihr für Geld bekommen könnt.«
Vor Konzentration zerfurchte sich seine Stirn, er versuchte, ihre Bemerkung richtig zu verstehen. »Ihr verlangt Geld? Ich weiß nicht, ob ich etwas Gold …«
Sie schüttelte den Kopf. »Das war ein Scherz.«
Er fuhr sich über die Stirn, versuchte aufzunehmen, was sie sagte, aber ihre Stimme ging unter in der Flut der Geräusche in seinem Kopf, die langsam vor und zurück wogte, die Wörter ein wirres, unverständliches Durcheinander. »Wo sind wir?« Endlich gelang es ihm, eine vernünftige Frage zu formulieren.
»Wir sind in der Nähe von Tibur«, sagte sie. Sie sah seine verständnislose Miene, unterdrückte die Besorgnis, die in ihr aufstieg, und legte ihm
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