Die Tochter des Königs
die Hand auf die Stirn. Er hatte etwas Fieber. »Ein halber Tagesritt östlich von Rom. Ihr wurdet vor vielen Wochen zu mir gebracht, auf einem Wagen liegend. Ihr wart in so vielen Stücken, dass ich dachte, sie hätten mir einen Probanten für meine Schüler gebracht, damit sie an Euch das Nähen lernen können.«
»Ihr unterrichtet auch?« Er klang etwas ungläubig.
»Meine Fähigkeiten sind schier grenzenlos.« Sie lächelte wieder. Ihr Lächeln war außerordentlich warm und herzlich, stellte er fest. Allein der Anblick der Frau tat ihm gut.
»Was ich Euch allerdings nicht sagen kann, ist Euer Name und was mit Euch passiert ist«, fuhr sie fort. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist ein Rätsel. Der Mann, der Euch gebracht hat, fand Euch bewusstlos in seinem Wagen liegen. Da Ihr unmöglich von selbst dorthin gekommen sein konntet, muss Euch jemand dorthin gelegt haben. Neben Euch lagen eine Münze und ein Wachstäfelchen, auf dem stand, Ihr möget hierhergebracht werden.« Sie stockte kurz und neigte den Kopf zur Seite. »Denkt nicht darüber nach, wenn es zu schmerzhaft ist.«
Er atmete tief ein und aus und versuchte, seine vielen Alpträume zusammenzufügen, die Geräusche und den Schmerz, die Angst und den Gestank des Todes. »Sie sind aus der Dunkelheit gekommen. Sie müssen mir gefolgt sein.« Gequält brach er ab. »In meinem Kopf höre ich Schreie. Meine Freunde …« Er spürte Tränen über seine Wangen laufen. »Meine Schwester. Sie haben meine Schwester umgebracht.«
»Das reicht für den Moment.« Sie legte ihm eine kühle Hand auf seinen brennenden Arm. Dann schnalzte sie vor seinen Augen mit den Fingern. »Denkt an die Elefanten!«
Verständnislos sah er sie an. »Elefanten? Welche Elefanten?«
Sie lächelte. Dieser Trick funktionierte bei jedem, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Jeder Patient, den sie behandelt hatte, wusste von den Elefanten des Kaisers. Große, sanfte Lebewesen und eine gute Ablenkung - wenn auch nur für einen Moment - von den Erinnerungen, die aus der Dunkelheit hereinströmten.
Allerdings würden seine Erinnerungen letztlich unweigerlich zu ihm zurückkehren. Stunde um Stunde hatte sie an seinem Bett gesessen, während er getobt und geschrien und geschluchzt hatte. In seinen Träumen hatte er alles noch einmal durchlebt: das Gemetzel, das Blut, den Tod. Sie wusste nur allzu gut, was mit ihm passiert war, denn sie hatte zugehört, als er von seinem Grauen und seiner Angst und seiner Hilflosigkeit sprach. Er hatte seine Schwester und seinen Großvater und seine Freunde verloren. Vor seinen Augen waren sie aufgespießt und hingemetzelt worden, und dann hatte er gesehen, wie ein Schwert, das von zwei Händen gehalten wurde, auf ihn herabsauste, um seinen Schädel und seinen Rumpf zu spalten. Fast wäre es dazu gekommen. Die Ärztin vermutete, dass es eine Christenfamilie war. Zu viele von ihnen hatten ein ähnliches Schicksal erlitten. Sein Glaube kümmerte sie nicht. Für sie war er ein interessanter Fall, da nicht nur sein Körper, sondern auch sein Geist zu heilen war. Dass ihr Ersteres gelingen würde, davon ging sie aus, und im Interesse ihres zweiten Ziels hatte sie nicht die Absicht, ihm zu sagen, dass einer der Anführer seines Glaubens, wenn es tatsächlich sein Glaube war, Petrus, in Rom festgenommen und zum Tod verurteilt worden war.
»Meine Kinder sind hier«, sagte sie stattdessen leise. »Sie bringen Euch noch etwas Wein. Ich mische etwas Schlafmittel darunter, damit Ihr ruhen könnt.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will nicht schlafen.« Flehentlich sah er zu ihr.
Also erinnerte er sich doch an seine Träume. »Dann bitte ich Portia, Euch etwas vorzuspielen. Ihre Musik gefällt Euch.«
Er nickte. Musik hatte er immer schon geliebt.
Sie hatte ihm oft vorgesungen.
Sie.
Wer?
Ihr Gesicht trieb gerade außerhalb seiner Erinnerungen. Er wusste nur, dass es der Person gehörte, die er am allermeisten liebte. Und dass er sie verloren hatte.
Wer immer sie war, sie war tot, wie die anderen. Alle, die er liebte, waren tot. Eigentlich sollte auch er tot sein.
Rhodri und Aurelia saßen am Küchentisch und hörten Steph zu, die gerade mit Nat telefonierte. Als sie schließlich auflegte und sich zu ihnen umdrehte, sah sie sehr besorgt aus.
»Daniel hat sie heute Morgen wieder verlassen. Er war über Nacht zu ihnen gefahren, direkt von London. Vermutlich gleich nachdem er William umgebracht hat.« Ihre Stimme zitterte. »Sie hat mir gesagt, dass er schon
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