Die Tochter des Königs
schnuppernd eine Pfote. Es roch nach Mensch, es roch nach Fieber. Der Fuchs floh. Eine Wölfin hätte vielleicht ein verlassenes Jungtier gewittert und es gesäugt, der Fuchs hingegen ging seiner eigenen Wege und verschwand ohne einen weiteren Gedanken an das Menschenwesen in die Nacht. Am nächsten Morgen war der kleine Junge tot.
»Also«, flüsterte Meryn. »Wir haben zwei kleine Mädchen, Eigon und Glads. Wir wissen, was mit Eigon passiert ist, aber wo ist ihre Schwester?« Er wartete. Einen Moment teilten sich die Wolken, ein einzelner Sonnenstrahl bewegte sich über den Boden des Ateliers auf ihn zu. Nachdenklich betrachtete er ihn. Die Sonne war fast schon untergegangen. Das Mädchen war älter, vielleicht war es woanders hingegangen, um Hilfe zu finden.
Die Geschichte des Viehstalls war erzählt. Morgen würde er ihn von seinen Erinnerungen reinigen. Jetzt war es Zeit, sich draußen umzusehen. Meryn ging langsam in den Hof auf das Tor zu, hinter dem der Pfad begann. In der Ferne rief eine Eule. Er lächelte. An diesem Abend jagte sie nicht im Wald, sondern flog auf der Suche nach Mäusen über die regennassen Felder und Wiesen. Wenn er durch ihre Augen sehen könnte, würde er vielleicht Jess finden. Als Steph ihm erzählt hatte, dass am Nachmittag die Hunde nach ihr gesucht hatten, hatte sie mit dem Kopf auf den zerknitterten Seidenschal gedeutet, der den Hunden als Fährte dienen sollte. Vor dem Essen hatte Meryn ihn an sich genommen. Jetzt holte er ihn heraus, wickelte ihn sich um die Hand und stimmte sich auf die Frau ein, die ihn getragen hatte.
Und da war er. Titus Marcus Olivinus. Er war älter geworden, sein Haar wurde grau, seine harten Augen blickten wachsam, sein Herz und seine Seele waren schwer vor Hass und Angst. Besessen kreiste sein ganzes Sein um einen einzigen Menschen.
Eigon.
Jess.
Eigon.
Sie waren nicht dieselbe Person. Es gab keinerlei Anzeichen einer Wiedergeburt, keine Verwandtschaft, keine Abstammung. Nur Titus brachte die beiden in seinem Wahn
in Verbindung. Nein. Nicht in seinem. Meryn tastete in größere Fernen, folgte geheimen Pfaden, die durch die Luft um ihn verliefen. Hier war es passiert. Hier, wo die Linien sich kreuzten. Jess war interessiert gewesen, mitfühlend, verletzlich. Irgendwie war sie in Eigons Erinnerungen geraten, irgendwie hatte sich ein Pfad zwischen ihnen aufgetan.
Aber es hatte auf beiden Seiten funktioniert. Daniel. Daniel und Titus. Nachdenklich fuhr sich Meryn über das Kinn. Daniel war Jess hierhergefolgt, und Titus war Eigon gefolgt. Jetzt sah er Daniel. Groß, angespannt, eifersüchtig. Daniel hatte wieder Hass und Zorn in die Berge gebracht, seine Gefühle hatten als Energieleiter fungiert. Die Lebensgeschichten waren aufgeflammt und wie ein Wildfeuer zwischen den vier Gestalten ausgebrochen, die sich hier in diesem Haus begegnet waren. Und die Zerstörung hatte ihren Lauf genommen.
»Aber bist du noch am Leben, Jess?« Meryn öffnete das Tor und blieb eine Minute auf dem Pfad stehen. Der Donner und die Blitze hatten die Luft gereinigt, jetzt spürte er alles mit mehr Klarheit. Sie war nach rechts abgebogen und bis zum Gipfel aufgestiegen, dann war sie halb zurückgekehrt. Sie hatte den Pfad verlassen, war einem inneren Drang gefolgt. Der hatte sie in die Bäume und schließlich hinter das Bauernhaus geführt.
Sie hatte jemanden singen gehört. Das war’s. Eine Stimme hatte sie immer tiefer in die Wälder geführt. Wie im Märchen. Er lauschte und spitzte die Ohren. Diese Stimme war gespenstisch gewesen. Die Stimme einer Frau, die um ihren toten Geliebten weinte.
Jess war ihr gefolgt, so wie Glads ihr zweitausend Jahre zuvor gefolgt war. Die Frau hatte neben dem Leichnam ihres Mannes gekniet, einem keltischen Krieger, gestorben auf dem Schlachtfeld, nackt bis auf seinen Schild. Sein Schwert
hatten die Plünderer geraubt, die es bei jeder Schlacht gibt, seine Augen hatten die Raben ausgepickt.
Glads blieb bei ihr stehen und schaute auf den toten Mann hinunter. Die Frau hob den Kopf, Tränen rannen ihr über die Wangen, und sah das kleine Mädchen mit dem verängstigten Gesicht, dem schmutzigen Kleid, den Kratzern an Armen und Beinen.
Meryn verfolgte, wie die beiden sich in ihrer Einsamkeit und ihrem Kummer umarmten. In Glads’ Beisein begrub die Frau ihren Mann, damit sein Leichnam vor den Vögeln geschützt war. Glads sah, wie die Frau für seine Seele betete, dann gingen die Frau und das Kind Hand in Hand vom Schlachtfeld in den Nebel
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