Die Tochter des Königs
dieses eine Mal, auf die Lippen, dann verließ sie den Raum und ging zu ihren anderen Patienten.
Sie fanden die Stelle, an der Jess gelegen hatte. Offenbar war sie ausgerutscht und das steile Ufer hinuntergestürzt, bis sie zwischen den Bäumen hängen geblieben war, direkt oberhalb des Bachs unter einer jungen Eiche, deren Wurzeln zum Teil in das rotbraune Wasser ragten. Offenbar hatte Jess dabei ihre Bluse zerrissen, ein paar grüne Stoff-fetzen hingen an einem Dornenzweig, das Muster war unverkennbar. An einem anderen Dornenzweig entdeckte Rhodri ein paar ihrer Haare. Wie lang sie dort gelegen hatte, konnten sie nicht sagen. Es gab auch keine Fußabdrücke, keinen Hinweis, dass sie in den Bach gefallen war. Und selbst wenn, wäre sie zwischen den Felsen und moosbewachsenen Steinen stecken geblieben. Trotz des heftigen Gewitterregens führte der Bach nicht genug Wasser, um einen ausgewachsenen Menschen mitzureißen.
»Tja, wo ist sie dann?« Rhodri ließ sich auf den Boden fallen und stützte den Kopf in die Hände. Steph und Aurelia setzten sich neben ihn. Sie hatten im Rucksack Taschenlampen, ein Seil und einen kleinen Verbandskasten mitgebracht.
»Könnte jemand sie weggetragen haben?«, fragte Steph schließlich. Im Stillen dachten alle sofort an Daniel.
»Wenn, dann hätten wir irgendwo seine Fußabdrücke sehen müssen«, sagte Aurelia erschöpft. Mit Tränen in den Augen schaute sie zu Meryn. »Sag uns, was wir tun sollen.«
Meryn überlegte. Er ging bachaufwärts von ihnen fort, kletterte über die rutschigen Steine, leuchtete mit der Taschenlampe ins Wasser. Es war sehr klar. Er hockte sich neben einen kleinen Tümpel, der, von grünem Farn gesäumt, völlig reglos dalag, und versuchte, in seine Tiefen zu blicken. Für sehr kurze Zeit, bevor er den Abhang hinabgestiegen war, hatte er Kontakt gehabt, hatte gespürt, dass sie
sich in der Nähe befand. Wo also war sie jetzt? Hier spielten seltsame Kräfte zusammen, und er wusste, er war nicht allein. Da waren noch andere, die in der Atmosphäre herumstocherten und das Wasser trübten. Er warf einen Blick hinüber zu Rhodri und den beiden Frauen, betrachtete ihre ängstlichen Mienen im Schein der Taschenlampe, in dem sie zusammengekauert saßen. Hier unten war es sehr dunkel, abgesehen von einem gelegentlichen Aufblitzen, wenn sich das Wasser in schaumgekrönten Wellen an den Felsen brach. Der Lärm des Bachs, der zwischen der Schlucht wie in einem Trichter toste, war ohrenbetäubend. Wenn Jess nach Hilfe rief, würden sie sie nicht hören; aber sie rief nicht. Er spürte eine absolute Stille, die ihm zutiefst unbehaglich war. Er ging zu den anderen zurück.
»Sagt euch der Name Marcia etwas?«
Steph schaute kurz zu Rhodri und zuckte dann verneinend mit den Schultern. Auch Aurelia schüttelte den Kopf.
Bekümmert runzelte er die Stirn. »Irgendjemand ist dort draußen und sucht nach Jess. Nicht euer Freund Daniel.« Er zögerte, ehe er fortfuhr. »Ich glaube, wir schauen hier in die Vergangenheit. Zu Titus.«
Der Name rief einen merkwürdigen Widerhall in seinem Kopf hervor, er zuckte zusammen.
»Meryn?«, flüsterte Aurelia. »Was ist?«
»Marcia Maximilla«, murmelte er. »Ah, Herrin, da seid Ihr also. Ich kann Euch sehen. Sehr klug.« Seine Augen waren geschlossen. »Sehr mächtig. Beeindruckend.«
Die anderen drei tauschten Blicke, sagten aber nichts.
»Also, habt Ihr sie schon gefunden? Ist es Jess, nach der Ihr sucht?« Es war, als spräche er zu sich selbst. »Nein, jetzt sehe ich, Ihr seid auf Eigon aus, aber Jess führt Euch zu ihr. Was für ein kunstvolles Netz Ihr über die Jahre hinweg gewoben habt! Eigon hat sich vor Euch verschlossen, nicht
wahr? Sie hatte eine gute Ausbildung.« Unvermittelt erlosch seine Taschenlampe, doch das schien er gar nicht zu bemerken. »Jess steht jetzt unter Eurem Schutz.« Langsam atmete er aus, dann öffnete er die Augen. »Wir verschwenden hier unsere Zeit. Es tut mir leid, euch völlig umsonst hier in die Schlucht gehetzt zu haben.«
»Aber sie war doch hier?« Aurelia deutete auf die Stoff-fetzen, die von dem Dornenbusch hingen.
»Ja, sie war hier, aber dann ist sie wieder weg.« Meryn streckte eine Hand aus, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. »Gehen wir zum Haus zurück. Vielleicht ist sie schon dort.«
Schweigend folgten sie ihm den steilen, rutschigen Abhang hinauf, hangelten sich von Baum zu Baum, bis sie schließlich wieder keuchend auf dem Feld standen und von dort auf den Pfad
Weitere Kostenlose Bücher