Die Tochter des Königs
täuschst du dich. Nicht einmal das hast du richtig hinbekommen. Er hat noch lange genug gelebt, um deinen Namen in Blut auf die Wand zu schreiben. Wie melodramatisch!«
»Jetzt lügst du wieder.«
Rhodri zuckte mit den Achseln. »Das wirst du bald genug selbst herausfinden.« Er spannte sich an, als Daniel den Ast wieder fester umklammerte.
»Und, Rhodri, kannst du denn richtig buchstabieren?« Daniel grinste höhnisch. »Sollen wir das mal herausfinden? Dafür brauchen wir nur ein bisschen Blut!«
Seid ihr da, um mit mir zu spielen?
Die Stimme ertönte direkt hinter Daniel. Er erstarrte.
Ich bin so einsam hier. Spielen wir jetzt das Spiel weiter?
Eine blasse Gestalt trieb in der Lichtung. Rhodri konnte vage ihre langen Haare ausmachen, ihren zerfetzten Rock, der ihr nur knapp bis über die Knie reichte.
»Hallo, Herzchen«, sagte er leise. »Wir spielen gern mit dir, oder vielleicht nicht, Daniel?«
Mit einem furchtsamen Aufschrei wirbelte Daniel herum. Der Ast flog ihm aus der Hand, und ohne die Gestalt überhaupt richtig anzusehen, stürzte er zwischen den Bäumen davon. Dann war auch das kleine Mädchen fort.
Rhodri zwang sich, ruhig durchzuatmen. Er drückte sich vom Baumstamm fort und lief los, in seiner Wut stürzte er in das Gebüsch, in dem Daniel verschwunden war. Dann blieb er stehen, zwang sich, seinen Zorn zu beherrschen, und schaute den Abhang hinunter, über den Daniel verschwunden war. Es war nichts von ihm zu hören, kein Laut, der verraten würde, wohin er gelaufen war. Der Hubschrauber
flog von ihm fort, über den Fuß des Bergs hinweg. Rhodri sah das starke Suchlicht, das über die Bäume unten im Tal schweifte.
Hinter ihm knackte ein Zweig. Erschrocken drehte er sich um, kniff die Augen zusammen, sein Herz klopfte wieder wie wild. Wenn es nicht Daniel war, dann musste es das Kind sein.
»Tja, Mädchen, den hast du verschreckt. Das war sehr schlau von dir«, rief er. Er schaute zur Lichtung, auf der die Gestalt erschienen war. Hatte er sie wirklich gesehen, oder war es nur ein Mondstrahl gewesen, der sich durch die Blätter verirrt und auf dem Pfad getanzt hatte? Rhodris Wut ging unvermittelt in Angst über vor dem, was er gesehen hatte. Er spürte, dass ihm die Haut am ganzen Körper prickelte. Langsam drehte er sich im Kreis und schaute angestrengt zwischen die Bäume. »Bist du noch da?«, rief er. Meinte er Daniel oder das Kind? Jemand beobachtete ihn, das spürte er. Langsam trat er vom Rand des Abhangs zurück zu der Stelle, wo Daniel den Ast hingeworfen hatte, und hob ihn auf. Er war schwer, das eine Ende hatte eine scharfe, raue Spitze. Der Ast hätte ihn tatsächlich getötet.
Hast du meiner Schwester wehgetan?
Die Stimme klang jetzt noch näher, ertönte direkt neben ihm. Rhodri spürte, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich, und er umklammerte den Ast noch fester. »Nein, ich habe deiner Schwester nicht wehgetan. Das waren böse Männer, die das getan haben.« Er sprach sehr leise und wagte es kaum, sich umzusehen. Wo war sie?
Sie hat uns im Stich gelassen. Sie ist nicht zurückgekommen.
»Sie konnte nicht zurückkommen. Sie hat es wirklich versucht.« Er drehte den Kopf ein wenig. War sie das, da auf der grasbewachsenen Lichtung zwischen den Bäumen? Nur
ein blasser Umriss, kaum mehr als ein Schatten, der inmitten der Schatten davontrieb.
»Gott segne dich, meine Kleine«, flüsterte er.
Er bekam keine Antwort.
Plötzlich war sie wieder da, fast direkt neben ihm, jedes Detail von ihr konnte er erkennen. Das blasse, verdreckte Gesicht, die hübsche kleine Nase, die großen dunklen Augen und den zornigen Mund. »Ich habe die Frau!«, sagte sie deutlich. »Und ich lasse sie dafür büßen, dass sie meinen Bruder umgebracht und mir meine Schwester weggenommen hat!«
»Was meinst du damit?« Rhodri streckte die Hände nach ihr aus, doch seine Finger bekamen nur Luft zu fassen. »Welche Frau? Meinst du Jess?«
Aber sie war fort.
Kapitel 35
J ulius stand am Kai von Portus Dubris und schaute sich um. Sie waren auf ihrer Reise quer durch Gallien rasch und ohne größere Zwischenfälle vorangekommen, und an der Küste angelangt, war es nicht schwer gewesen, eine Überfahrt auf einem der schnellen Handelsboote zu finden, die den Hafen von Gesoriacum ansegelten. In Britannien war es, wie Eigon ihm immer mit einer gewissen Wehmut erzählt hatte, nass und kalt und windig. Doch der Wind hatte ihn rasch übers Meer getrieben, also störte ihn das nicht weiter. Er heuerte
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