Die Tochter des Königs
kleines Mädchen. Er hielt in seinem Gedankenstrom inne. Der Zorn korrodierte die Luft. Er spürte Probleme, Schwierigkeiten. Langsam bewegte er sich weiter vor, suchte nach Jess.
Nichts. Verständnislos schüttelte er den Kopf. Er dachte an die Berge der alten Zeit. Sie bewahrten Erinnerungen, wie eine Schale Wasser fasst, konzentrierten sie, verstärkten sie, hallten mit Gefühlen wider. Nichts verschwindet, nichts geht je verloren. Aber hier waren undurchsichtige, trübe Stellen. Irgendjemand hielt Jess verborgen.
Und Eigon. Was war mit Eigon selbst? War sie in diese Berge zurückgekehrt, und wenn, welches Wissen hatte sie dann mitgebracht? Er schloss die Augen und wartete.
Hinter ihm öffnete sich die Haustür. Aurelia trat in den Garten und schaute über das Tor. Sie hatte sich gefragt, wohin er wohl verschwunden sein mochte. Jetzt sah sie ihn im Sternenlicht, eine schwarze Silhouette vor der Nacht. Völlig reglos stand er da, schaute nach unten zum Schlachtfeld der alten Zeit. Meryn hatte sich verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, er hatte an Erfahrung und Ernst gewonnen. Sie lächelte wehmütig. Jetzt verströmte er eine Macht und eine Strenge, die etwas abweisend wirkten. Merkwürdig, ging ihr durch den Kopf, dass sie sich früher beinahe in ihn verliebt hätte. Jetzt bezweifelte sie, ob er überhaupt fähig war, jemanden zu lieben. Er ging ganz in seinen Dämonen auf. Aber wenn jemand Jess finden konnte, dann er. Sie widerstand der Versuchung, seinen Namen zu rufen, sie wusste, dass sie ihn nicht stören durfte. Also drehte sie sich um und kehrte ins Haus zurück. Die Tür schloss sich hinter ihr, er hatte sie gar nicht bemerkt. Wenige Sekunden später flammten Scheinwerfer auf dem Feldweg auf, der erste Polizeiwagen fuhr in den Hof, vier Männer stiegen aus.
Rhodri blieb stehen. Er war so außer Atem, dass er keinen Schritt weiter konnte. Keuchend beugte er sich vor und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Daniel hatte er schon lang
aus den Augen verloren, und als er mit unterdrücktem Atem lauschte, hörte er ihn auch nicht mehr durch das Unterholz laufen. Es herrschte absolute Stille. Er war ihm entkommen. Leise fluchend schloss Rhodri die Augen. Die Wut, die ihm die Energie gegeben hatte, dem Mann in der Dunkelheit den Berg hinauf nachzusetzen, war so überwältigend gewesen, dass sie ihm regelrecht Angst machte. So etwas hatte er noch nie empfunden. Er ballte die Hände zur Faust, spürte, dass sein Herz langsam zum normalen Rhythmus zurückfand, und sah sich in der Dunkelheit um. Daniel konnte nicht einfach verschwinden, irgendwo musste er sein. Rhodri kannte diese Wälder in- und auswendig, Daniel nicht. Dadurch war er im Vorteil, aber er musste auch seinen Kopf benutzen. Jetzt, nachdem er sich wieder im Griff hatte, musste er rational vorgehen. Er hatte zwar keine Taschenlampe bei sich, aber das Mondlicht genügte, um ihm den Weg zu weisen, und auch die dunkleren Silhouetten der Baumstämme um ihn her zeichneten sich deutlich ab.
Wohin würde Daniel gehen? Würde er versuchen zu fliehen, oder würde er sich weiter auf der Suche nach Jess hier herumtreiben? Hinter ihm knackte ein Zweig laut in der Stille. Rasch drehte er sich um. Hier war er sehr angreifbar. Wenn er sehen konnte, dann konnte Daniel es auch. Schon möglich, dass der Kerl sich ihm jetzt von hinten nähern wollte. Vorsichtig trat er vom Pfad in den Schatten der Bäume, blieb mit dem Rücken zu einer massigen alten Eiche stehen und spürte ihre raue Rinde beruhigend durch das Hemd. Er legte den Kopf an den Stamm und schaute durch die Zweige nach oben. Das Gewitter hatte sich längst verzogen, der Himmel war klar. Jetzt wehte nicht die leiseste Brise. Die Nacht war still, sie lauschte. Wenn er sich konzentrierte, glaubte er, aus der Ferne das gedämpfte
Tosen des Bachs zu hören, der zwischen den Felsen ins Tal stürzte.
Spielst du mit mir?
Die Stimme war klar und hoch und sehr nah. Panik drohte ihm die Kehle zuzuschnüren, als er angestrengt lauschte.
Ich bin so einsam ohne jemanden zum Spielen.
Er konnte niemanden sehen. »Wer ist da?«, fragte er heiser.
Stille.
Außer dem Schatten der Bäume konnte er nichts sehen. In der Ferne bellte ein Fuchs, er spürte, dass sich Schweiß zwischen seinen Schulterblättern bildete. »Eigon, bist du das?«
Die Qualität der Stille veränderte sich. Jetzt hörte sie zu. »Eigon, Liebes? Wo bist du?«
Eigon ist nicht da. Sie will nicht mehr spielen.
Er schluckte.
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