Die Tochter des Königs
Annalen , die hatte sie gleich gefunden und darin geblättert, aber noch nicht zurückgelegt. Das Buch war wunderschön gebunden. Vorsichtig öffnete sie es in der Hoffnung, beim ersten Mal etwas überlesen zu haben, dann hielt sie abrupt inne. Einen triftigen Grund könnte es natürlich geben, weshalb niemand
Caratacus erwähnte: Vielleicht war er gestorben. Das würde alles erklären. Im ersten Herbst, den sie in Italien verbrachten, war er krank. Das hatte Eigon erzählt, und Eigon war jetzt ihre einzige Informationsquelle. Nachdenklich zog Jess die Stirn kraus. Er hatte an einem Fieber gelitten, das ständig wiederkehrte. Malaria? Hatte der Krieger aus den feuchten, kalten Festungen in England und Wales die entsetzlichen Wunden der letzten Schlacht überlebt, nur um dem Fluch der Pontinischen Sümpfe zu erliegen? War er gleich in seinem ersten Jahr in Rom gestorben? Jess schloss das Buch und stand auf. Die Frage konnte nur ein Mensch beantworten. Eigon.
Sorgsam stellte sie die Bücher an ihren jeweiligen Platz in den Regalen zurück und verließ die Bibliothek. »Steph? Kim?«
Sie bekam keine Antwort. Sie warf einen Blick in den Salon und ins Esszimmer, wo die Fensterläden geschlossen waren und es nach sommerlicher Schläfrigkeit roch. Kims behagliches Wohnzimmer, in dem Blumen standen und wo die Fenster wie in Jessʹ Zimmer auf den ruhigen Innenhof des Palazzo hinausgingen, war verwaist. Ebenso die Küche. Wo waren sie alle? Im Gang sah sie zu den Schlafzimmertüren, die alle offen standen. Nichts war zu hören außer ihren eigenen Schritten auf den polierten Dielen. »William?« Offenbar waren die anderen ohne sie ausgegangen. Einen Moment war sie gekränkt, dann verzog sie das Gesicht. Selbst schuld! Was war sie auch so besessen gewesen. Wahrscheinlich hatten die anderen nach ihr gerufen und ihr gesagt, wohin sie gingen, aber vertieft, wie sie in ihre Bücher gewesen war, hatte sie nichts mitbekommen. Sie warf einen Blick zur Wohnungstür. Sie hatte zwei Möglichkeiten. Sie konnte nach draußen gehen und denselben Weg nehmen wie gestern, nur dass sie dieses Mal auf das Ansteigen
und Abfallen der Straßen achten würde, auf Treppen, auf alles, was auf einen antiken Hügel hinweisen könnte. Oder sie konnte zu Eigon zurückkehren. Den nächsten Teil ihrer Geschichte hören. Jess zögerte. Es war sehr verlockend, nach draußen zu gehen. Sie hatte Stunden in der dämmrigen Bibliothek verbracht. Plötzlich wollte sie nichts so sehr, wie in die Sonne und den Trubel der belebten Straßen einzutauchen.
Kapitel 13
E rschöpft setzte Jess sich in ein kleines Restaurant in einer Nebenstraße der Via dei Serpenti unter einen roten Sonnenschirm, bestellte ein kaltes Bier und streifte die Sandalen von den Füßen. Die Hitze war unerträglich, die Sonne reflektierte grell vom Pflaster. Jess war kilometerweit bergauf und bergab gelaufen im Versuch, die Erhebungen in der Stadt der sieben Hügel auszumachen. Sie war Touristenscharen ausgewichen und hatte Straßen überquert, war Treppen gestiegen und verschlungenen Gassen in schattige Höfe gefolgt und hatte dabei das ganze Viertel des Esquilin erforscht. Sie hatte ihren Rundgang am Ort von Neros Palast, der Domus Aurea, begonnen, und doch hatte sie nirgends das Gefühl bekommen, in der Stadt zu sein, die Eigon gekannt hatte.
Aber vermutlich hatte sie sie gar nicht allzu gut gekannt. Vielleicht hatte die Villa außerhalb der Stadt gelegen. Das war sogar recht wahrscheinlich, immerhin hatte es dort einen richtigen Garten mit Bäumen gegeben, den Blick auf Rom nicht zu vergessen. Jess seufzte. Vielleicht folgte sie einer völlig falschen Fährte. Das Rom zur Zeit Claudius’ war im Vergleich zu heute sehr klein gewesen und außerdem völlig ausgelöscht worden. Soweit Jess wusste, standen nur noch sehr wenige der ursprünglichen Bauten. Und selbst wenn es sie noch gab, waren sie für Eigons Leben
ohne Bedeutung. Abgesehen von ihrem kurzen Aufenthalt als Gefangene und der langen Prozession vom Kerker zum Forum, wo Claudius und seine Frau Agrippina auf dem Podium warteten, hatte sie nichts von der Stadt gesehen.
Seufzend zog Jess ihren Skizzenblock zu sich und schlug eine neue Seite auf. Die vorhergehenden Blätter zeigten lauter Skizzen des römischen Lebens: Menschen, Gebäude, Plätze, Brunnen, Schirme. Jess lächelte. Überall Schirme und Markisen, die Schutz vor der sengenden Sonne spendeten. Auf einer Mauer ganz in ihrer Nähe saßen zwei Männer und unterhielten sich
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