Die Tochter des Königs
gestritten. Es war mehr als ein Streit, eher schon eine handfeste Auseinandersetzung. William ist gekränkt. Jess geht’s besser, weil Daniel nicht mehr da ist.« Sie machte eine kurze Pause. »Reicht das als Erklärung?«
»Also nichts als verletzte männliche Eitelkeit rundum.« Achselzuckend ging Kim ihrer Freundin voran zur Wohnung hinaus und die breite Marmortreppe hinunter zur Haustür. Dann traten sie ins helle Sonnenlicht und schlenderten die Straße entlang.
Hinter den beiden Frauen tauchte eine Gestalt aus der Menge auf und sah ihnen nach, bis sie außer Sichtweite verschwanden. Daniel schaute zu den Fenstern der Wohnung hinauf. In dem grellen Licht verengten sich seine goldbraunen Augen. Er lächelte kalt. Jetzt waren alle außer Jess fort. Wenn sie erschien, würde sie allein sein, und er würde da sein, um sie zu empfangen.
Jess saß über ein Buch gebeugt in Adrianos Bibliothek und fuhr mit dem Finger über die Details einer kunstvoll gearbeiteten Radierung. Adriano hatte sein Leben lang Bücher gesammelt wie schon sein Vater vor ihm. Es mussten Tausende
von Bänden sein, die in diesem bis an die Decke mit Regalen vollgestellten Raum lagerten, in dem sich auch ein wunderschöner runder, mit Leder bezogener Lesetisch und eine antike Büchertreppe befanden. Wenn sie Caratacus’ Villa finden würde, dann mit Hilfe von Informationen, die sie irgendwo in diesem Zimmer bekam. Sie schaute auf. Die Fensterläden waren geschlossen, um die ledernen Einbände vor der Sonne zu schützen, aber durch die Schlitze fielen einzelne Strahlen, in denen Staubpartikel tanzten. Der ganze Raum roch nach Staub und Alter. Jess schaute auf die braunen, etwas fleckigen Seiten des Buches, das vor ihr auf dem Tisch lag, und schüttelte verärgert den Kopf. Das nützte doch alles nichts. Eigon hatte vor fast zweitausend Jahren gelebt! Warum wollte ihr diese Zeitspanne nicht endlich in den Kopf? Also noch vor dem Bau des Kolosseums. Da würde ihr keines von Adrianos Geschichtsbüchern weiterhelfen. Nichts würde ihr weiterhelfen. Wieso hatte sie geglaubt, sie könnte etwas finden? Es gab einen Grund, warum niemand das weitere Schicksal Caratacus’ und seiner Familie erwähnte: weil niemand es kannte. Und niemand kannte es, weil es niemanden interessiert hatte. Ihr Schicksal tat nichts zur Sache. Nachdem er einmal besiegt und nach Rom gebracht worden war, hatten die römischen Historiker ihr Interesse an ihm verloren. Das Einzige, was noch kurz ihre Aufmerksamkeit gebannt hatte, war Claudius’ außergewöhnliche, aber natürlich eigennützige Geste, ihr Leben zu schonen.
Jess holte einen weiteren schweren Band aus dem Regal, und dann noch einen. Sie waren zwar alle auf Italienisch, aber um das Register durchzusehen, genügten ihre Sprachkenntnisse. Nichts. Sie ging weiter suchend die Regale ab, bis ihr ein Name ins Auge fiel: Gibbon. Verfall und Untergang des Römischen Reiches. Das war zumindest auf Englisch
und könnte etwas zu ihrem Thema enthalten. Mit neuem Schwung zog sie die Büchertreppe herüber und holte den ersten Band herunter.
Sie beugte sich über die eng bedruckten Seiten mit ihrer eleganten, aber schwer entzifferbaren Schrift. Das war eine Erstausgabe! Sie sah im Inhaltsverzeichnis nach, schlug ein Kapitel auf, das von Britannien handelte, und begann zu lesen: »Vor dem Verlust seiner Freiheit war Britannien höchst ungleich unter dreißig Barbarenstämme aufgeteilt …« Sie überflog die nächsten Zeilen, weiter unten erwähnte Gibbon neben verschiedenen Stämmen auch die Silurer in Südwales. An der Stelle las sie weiter: »Soweit wir die Ähnlichkeiten von Sprache und Brauchtum zurückverfolgen und ihnen Glauben schenken können, waren Spanien, Gallien und Britannien von ein und derselben Rasse von verwegenen Barbaren besiedelt.« Sie lächelte amüsiert und schloss das Buch wieder, um im letzten Band im Register nachzusehen. Aber auch dort wurde Caratacus nicht erwähnt, zumindest nicht, soweit sie das feststellen konnte. Die Geschichte war selbst für Gibbon zu früh. Wenn Caratacus geflohen und irgendwie nach Britannien zurückgekehrt wäre, wenn er einen weiteren Versuch unternommen hätte, sein Volk zu befreien, hätte Tacitus oder der spätere römische Historiker Dio Cassius das irgendwo erwähnt. Das taten sie nicht, ebenso wenig wie Gibbon.
Enttäuscht starrte sie auf den Tisch, ohne etwas wahrzunehmen. Wo konnte sie jetzt noch nachsehen? Adriano hatte eine lateinische Ausgabe von Tacitus’
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