Die Tochter des Königs
leise auf, dass Jess kurz zweifelte, ob sie sich überhaupt bewegte. Ohne sich irgendeiner Gefahr bewusst zu sein, machte sich die Taube mit Hingabe daran, den zweiten Flügel zu putzen, die schillernd changierenden Farben an ihrem Hals fingen die ersten Lichtstrahlen ein, die in die Mitte des Hofs fielen. Jess war zu weit weg, um etwas tun zu können. Jeden Moment würde die Katze zuschlagen.
»Nein!« Jess war sich nicht bewusst, laut geschrien zu haben, bis der Ruf an ihre Ohren drang. Sie beugte sich
weit zum Fenster hinaus. »He!«, rief sie und klatschte in die Hände. Das Geräusch hallte wie ein Pistolenschuss an den Mauern des Palazzo wider. Erschreckt flatterte die Taube auf, flog in weiten Spiralen in die Höhe und über die Dächer außer Sichtweite.
Als Jess wieder nach unten zur Katze schaute, war sie verschwunden.
Die anderen saßen schon bei einem Kaffee und panini in der Küche, als Jess schließlich zum Frühstück erschien. Als Erstes sah sie sich im Raum um.
»Wo ist Daniel?«
»Er ist gefahren.« Kim stand auf und zog für Jess einen Stuhl unter dem Tisch vor. »Nach England. Nat hat angerufen, irgendetwas mit den Kindern.« Sie warf einen kurzen Blick zu William. Er strich sich gerade Butter auf ein Brötchen und schaute nicht auf.
Jess setzte sich und schenkte sich Kaffee ein. »Na, ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtäte.« Sie seufzte. Nach der schlaflosen Nacht und dem frühen Aufwachen war ihr Gesicht blass, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihre unendliche Erleichterung über Daniels Abreise bekam einen Dämpfer, als sie sich der Atmosphäre am Tisch bewusst wurde. Sie blickte in die Runde. »Was ist los?«
Steph zuckte mit den Achseln. »Nichts. Was hast du heute vor?«
»Ich mache mit meinen Nachforschungen weiter.« Jess griff nach der Schale mit selbst gemachter Marmelade und gab sich einen Löffel auf den Teller. »Ich weiß, es klingt blöd, aber ich habe letzte Nacht wieder von Eigon geträumt, und ich sehe den Teil der Stadt, wo sie gewohnt hat, genau vor mir. Ihre Villa lag ganz oben auf einem Hügel mit Blick auf Rom. Ich nehme meinen Skizzenblock und die Kamera
mit und laufe ein bisschen durch die Gegend. Vielleicht bekomme ich ein Gespür für die Topographie.«
»Adriano hatte viele alte Bücher über Rom«, sagte Kim und schenkte sich Kaffee nach. »Warum schaust du dich nicht mal in der Bibliothek um? Vielleicht helfen dir die alten Landkarten ja weiter.« Sie sah zu William. »Magst du Jess nicht begleiten? Steph und ich wollen heute Vormittag lauter Sachen machen, die nur für Mädels interessant sind - Einkaufen und derlei.«
William verzog das Gesicht. »Ich habe schon was vor, danke. Es sei denn, du möchtest einen Begleiter?« Der Blick, den er auf Jess richtete, war alles andere als erfreut.
Errötend schüttelte sie den Kopf. »Nicht nötig. Ich bin lieber allein unterwegs.«
»Also, das war ja nicht gerade feinfühlig!«, fuhr Kim William an, nachdem Jess aus der Küche gestürzt war, kaum hatte sie ein halbes Brötchen gegessen.
»Ich bin nicht ihr Aufpasser!«, antwortete William.
»Das will sie auch gar nicht«, sagte Steph langsam. »Was ist bloß los mit euch beiden? Warum benehmt ihr euch so sonderbar? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
William schüttelte unwillig den Kopf. »Bevor Daniel gefahren ist, hat er ein paar ziemlich abschätzige Bemerkungen über Jess gemacht. Ich weiß nicht, ob sie stimmen, und es ist mir auch egal, aber ich bin nicht dafür da, geschundene Seelen zu flicken.« Er schob seinen Stuhl zurück und trug sein Frühstücksgeschirr zum Spülbecken, ohne auf Kim zu achten, die ihn wütend anfunkelte.
Steph wandte sich zu ihr. »Jetzt sag schon, was ist denn los?«
»Daniel hat gesagt, sie habe ihn angemacht, nachdem wir uns getrennt haben«, antwortete William an ihrer statt. »Er sagt, sie sei ziemlich durchgedreht.«
Kim schnaubte verächtlich und begann, den Tisch abzuräumen.
»Das hat Daniel gesagt?« Stephs Augen verengten sich. »Findest du, dass das nach Jess klingt?«
»Nein.« Williams einsilbige Antwort verlor sich fast, als er zur Tür ging. »Nein, das tut’s nicht.« Zehn Minuten später hörten die beiden Frauen, wie die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel. Sie schauten sich an.
»Also, was ist denn wirklich los?«, fragte Kim. Sie holte ihren Geldbeutel und nahm eine Tasche vom Haken an der Tür.
Steph machte eine ausweichende Geste. »Daniel und Jess haben sich
Weitere Kostenlose Bücher