Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
nicht im Tempel ist?«, fragte Temu.
»Ach was, Tempel! Er ist viel zu faul, um sich den Weg zu machen. Ich denke, wir werden heute Abend am Hausaltar opfern, und ich finde, das muss auch genügen. Aber warum suchst du ihn überhaupt?«
»Ich habe einen Auftrag für ihn, liebe Schwester.«
»Einen Auftrag? Du? Ich hoffe, du ziehst ihn nicht in irgendetwas hinein, du und diese Fremde da.«
»Hineinziehen? Nein, ich tue ihm sogar einen Gefallen. Er klagt doch immer, dass sein Schmiedehammer nichts zu tun hat.«
»Und eben das wundert mich, du hast ja sonst kaum ein gutes Wort für ihn.« Und dann setzte Subali zu einem langen Klagelied an, das Temu abkürzte, indem er ihr einen freundlichen Abschiedsgruß zurief und Maru einfach aus der Tür schob. Als die Pforte hinter ihm zufiel, atmete er erleichtert auf.
Sie warfen die Umhänge über und machten sich auf den Weg. Temus Haus lag in einer ruhigen Straße unweit der äußeren Mauer. Es reihte sich ein in eine Vielzahl weiß getünchter Lehmhäuser. Auch ein Grund, warum dieses Viertel die Weiße Seite genannt wurde. Sie waren sich einig, dass es unklug wäre, den kurzen Weg über die Oberstadt zu wählen. Stattdessen schlugen sie einen Weg ein, der sie am Fuß der Oberen Mauer entlangführte. Das war ein beträchtlicher, aber unvermeidlicher Umweg. Maru dachte mit Sorge daran, dass sie dieser Weg auch durch das Hafenviertel führen musste. Es war möglich, dass sich dort Tagor Xonaibor und seine Leute herumtrieben oder auch Agir. Sie begegneten unterwegs nur wenigen Menschen. Brodelnde Unruhe wehte von der Oberstadt herab. Wenn Maru hinaufblickte, sah sie immer noch Rauch aufsteigen, aber er war schwächer geworden. Offenbar hatte wirklich jemand für Ordnung gesorgt und das Feuer gelöscht oder zumindest eingedämmt. Maru richtete ihre Gedanken nach vorn, auf den Schmied. Sie hoffte, er konnte vollbringen, was sie von ihm erwartete. Sie verstand nicht viel von der Schmiedekunst. Die Zweifel kehrten zurück. Was, wenn das, was ihr vorschwebte, gar nicht machbar war? Was, wenn Kullu sich weigerte, seinem Schwager zu helfen? Und was, wenn das, was Biredh erzählt hatte, sie nur in die Irre führte? Dann wäre ihr ganzer Plan hinfällig. Biredh. Der blinde Erzähler schien immer in der Nähe zu sein, wenn etwas Wichtiges geschah. Das war in Serkesch so gewesen, im Isberfenn und nun in Ulbai wieder. Sie beschloss, Temu nach ihm zu fragen.
»Biredh?«, antwortete der Schreiber. »Natürlich kenne ich ihn, warum fragst du nach ihm?«
»Ich habe ihn vorhin bei den Tempeln getroffen.«
»In der Stadt? Ich hätte nicht gedacht, dass er Ulbai jemals wieder betritt.«
»Warum sollte er die Stadt nicht mehr betreten wollen?«, fragte Maru neugierig.
»Kennst du seine Geschichte nicht?«, fragte der Schreiber und ging langsamer. Er war außer Atem geraten.
Maru verlangsamte ihre Schritte ebenfalls. »Nein«, antwortete sie, nicht ganz wahrheitsgemäß. Im Fenn hatte man ihr erzählt, Biredh habe als hoher Abeq Strydh gedient und deshalb, wie es der Brauch verlangte, ein Auge geopfert. Aber dann sollte er sich eines Besseren besonnen und sich vom Kriegsgott abgewandt haben. Um sein Priesteramt aber niederlegen zu dürfen, habe er sein zweites Auge opfern müssen.
»Es ist lange her, vor meiner Geburt«, begann Temu. »Biredh war damals ein junger und hoffnungsvoller Verwalter am Hofe Labar-Etellus. Er soll ein sehr begabter Jüngling gewesen sein, doch liebte er das Schöne zu sehr. Sein Auge fiel auf die Frau Labars, und er entbrannte in Liebe zu ihr. Er wurde gefasst, als er sich ihr im Garten nähern wollte. Diese Geschichte wird sehr oft erzählt, und ich habe mir schon mehrfach vorgenommen, einmal in die Gerichtsberichte dieses berühmten Falles zu schauen. Doch bin ich bisher noch nicht dazu gekommen. Vor seinen Richtern sagte Biredh, so die Geschichte, er habe ihrem Anblick einfach nicht widerstehen können, und Labar, der ihn liebte wie einen Sohn, nahm ihm nicht das Leben. Nur seine Augen hätten ihn zu dem Verbrechen verführt – und wurden als die wahren Schuldigen durch Auslöschung bestraft. Labar war ein harter, aber weiser Herrscher«, schloss Temu seine Erzählung.
»Aber das war grausam!«, rief Maru aufgebracht.
»War es das? Als ich zum ersten Mal diese Geschichte hörte, hätte ich dir wohl recht gegeben. Aber inzwischen kenne ich die Gesetze. Labar hätte Biredh auch töten dürfen, eigentlich sogar müssen. Aber er tat es nicht, sondern
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