Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
Schatten. Die Menschen wichen vor ihr zurück. Kaschakku – das Wort verschaffte ihnen freie Bahn. Doch hinter ihnen brodelte die Menge. War sie da, wirklich? Die Kaschakku, die Umati zum Mord an Luban gezwungen hatte? Noch aus der Ferne glaubte Maru die dünne Stimme des Kydhiers zu hören, wie er Verleumdungen ausstieß. Kaschakku – das Wort verfolgte sie und flog ihnen voran. Temu zog Maru um eine Ecke. Und als sie in die Gasse einbogen, hörte Maru zum ersten Mal den Ruf: »Erschlagt sie!«
Sie rannten schneller. Maru brauchte das immer stärker werdende warnende Gefühl nicht, um zu wissen, dass sie in Lebensgefahr schwebte. Und Temu mit ihr. Der Tod des Kaidhans hatte die Menschen zutiefst erschüttert. Das Gefühl der Verunsicherung war mächtig, die Trauer noch größer – und jetzt war beides in Wut umgeschlagen. Und die hatte endlich ein Ziel: Die Kaschakku, die Böse Frau, die das Verhängnis in die Stadt gebracht hatte.
»Wo rennen wir eigentlich hin?«, keuchte Maru.
»Vertrau mir«, antwortete Temu schnaufend.
Hinter ihnen schwoll der Lärm an. Es war lautes Geschrei und das dumpfe Getrampel zahlloser Füße, die ihnen über das Pflaster hinterherjagten. »Kaschakku« , hallte es von den Wänden. Noch waren sie schneller als die Wut. Die Menschen starrten sie an, wenn sie vorbeirannten, doch noch verstanden sie nicht, was das zu bedeuten hatte. Es konnte aber nicht mehr lange dauern, bis sie nichts mehr verstehen mussten, sondern sich einfach der tobenden Menge anschlossen. Das Bet Schefir tauchte vor ihnen auf.
»Glaubst du, da sind wir sicher?«, rief Maru.
Das Bet Schefir hatte nur einen Eingang. Das war eine Mausefalle.
»Vertrau mir«, schnaufte Temu noch einmal.
Sie rannten um die Ecke, zur Pforte und hinein. Temu warf die schwere Holztür zu und schob den Riegel vor. Kreidebleich lehnte er sich mit dem Rücken dagegen. »Kaschakku«, brüllte es draußen.
»Das wird sie nicht lange aufhalten«, keuchte Maru.
»Nein, wird es nicht«, antwortete der Schreiber, nach Luft ringend. Die Menge war jetzt vor dem Bet Schefir. Jemand brüllte nach Fackeln. Ein Stoß erschütterte die Tür. Temu rappelte sich auf. »Komm schnell.«
Maru folgte dem rennenden Temu. Wütende Faustschläge lie ßen die Tür hinter ihnen erzittern. Der Lärm der Schreie und Flüche erfüllte die hohe Halle. »Kaschakku« und »Erschlagt sie!«, klang es immer wieder. Sie erreichten die Flucht der hinteren Kammern, und Temu schloss jede einzelne von ihnen hinter sich ab. »Das wird sie vielleicht ein wenig bremsen«, sagte er.
Marus Herz klopfte wild. Sie hörte die Pforte draußen splittern. Das Gebrüll der eindringenden Menschenmasse erschütterte die Wände. Wenn sie der Menge in die Hände fiel, würde man sie auf der Stelle zerreißen.
»Temu, auch das wird uns nicht retten«, rief Maru verzweifelt.
»Das vielleicht nicht, aber etwas anderes«, antwortete der Schreiber.
Sie waren in der letzten Kammer, aber die Falltür war verschwunden. Ein schwerer Tisch war darübergerückt worden.
»Wie du weißt, haben wir Akkesch eine Schwäche für geheime Kammern und Gänge«, erklärte Temu. Er nahm dabei einen kleinen Bronzeschlüssel aus der Tasche und steckte seine Hand zwischen zwei hölzerne Regale. Es klickte, und der schwere Tisch drehte sich wie von Zauberhand zur Seite. Maru starrte Temu verblüfft an. Draußen zerbarst eine weitere Tür, und durch die Kammern drang der Lärm von schreienden Menschen. Offenbar
richteten sie ihre Wut gegen die Holzgestelle und Schrifttafeln. Temu seufzte bekümmert. Dann öffnete er die Falltür. »Du zuerst, Maru«, befahl er.
Maru kletterte eilig nach unten. Temu folgte ihr und schloss die Klappe wieder. Es wurde stockdunkel.
»Irgendwo hier liegt eine Lampe, ah, hier«, murmelte Temu. Ein Funke glomm auf, dann verbreitete eine Öllampe Licht. »Du erlaubst?«, fragte der Schreiber und drückte sich an Maru vorbei in einen schmalen Gang. »Was taugt eine geheime Tür, wenn man sie nur von einer Seite öffnen oder schließen kann?«, fragte er mit einem verschmitzten Lächeln, aber sein Gesicht war kreidebleich. Er steckte den Schlüssel in ein kleines Loch und drehte ihn. Oben antwortete ein schabendes Geräusch.
»Ah, hier sind wir erst einmal sicher, glaube ich«, sagte Temu mit einem Seufzer der Erleichterung.
Staub rieselte von der Decke. Gepolter und Geschrei klangen gedämpft von oben herab. Offenbar entlud sich die Wut der Menge jetzt ungehemmt im Bet
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