Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
Vom Netzwerk:
Sie setzte den Messingnugget in seine Höhlung und drehte den rechten Griff um ein Viertel nach vorn. Jetzt saßen ihr die Nadeln tief in beiden Handgelenken. »Nun flieg los!«
    »Für diese Demütigung wirst du in der Hölle schmoren!« versprach 7332. Erinnerungen an Kriegsgreueltaten blitzten in Janes Hinterkopf. »Ich werd dich mit eigenen Klauen an den Feind verfüttern!«
    »Halt’s Maul und flieg los!«
    Sie setzten sich in Bewegung. Der Teerbelag polterte unter ihrem Gewicht, als sie Geschwindigkeit aufnahmen. Die Schwingen des Drachen entfalteten sich. Sie hoben ab. Hunde fielen herunter. Jane lachte hysterisch, genau wie - zu ihrer Überraschung - 7332.
    Er stieg in die Höhe.
    Rüttelnd flogen sie los. Die Fabrikmauern kamen langsam auf sie zu, dann rasch, und schließlich flitzten die Mauern gefährlich nahe unter ihnen weg. Sie hatten die Fabrik hinter sich gelassen. Langsam gewannen sie an Höhe.
    Der letzte der Höllenhunde verlor seinen Halt und stürzte kläffend in den Tod. Eine ruhige akzentlose Elfenstimme tönte von irgendeinem weit entfernten Kontrollturm über Funk: Sie verletzen industriellen Luftraum! Schalten Sie sofort alle automatischen Funktionen ab!
    Jetzt brüllte Melanchthon seinen Kampfschrei über alle Frequenzen hinweg, brachte Kommunikationssystem zum Erliegen, kratzte eine ionisierte Linie hoch oben in die Stratosphäre. Weit unter ihnen vollführten Verteidigungskräfte einen Notstart. Schwärme kriegserfahrener Wesen waren begierig, wieder einmal einen Luftkampf Klaue gegen Klaue zu führen. Aber sie kamen zu spät.
    Jane lachte jetzt so heftig, daß ihr die Tränen kamen. Sie mußte unaufhörlich an Rooster denken, konnte den Anblick seines kleinen reglosen Körpers nicht aus den Gedanken vertreiben. Ihre Gefühle waren so extrem, so chaotisch, daß sie nicht sagen konnte, welches ihre und welches die Gefühle des Drachen waren. Es spielte keine Rolle. Was 7332 spürte, konnte nicht intensiver sein als das, was jetzt in ihr geschah. Sie brannte vor Freude.
    Sie schwangen sich empor .

6

    Jane lebte als Waldmädchen in einem Buschgelände unmittelbar hinter der ehemaligen Müllkippe. Sie wohnte in der Kabine von etwas, das in den Augen der übrigen Welt aussah wie die rostende Hülle eines uralten und abgewrackten, halb im Lehmboden vergrabenen Drachen, dessen Schubstangen sich nicht mehr regten und dessen Fenster mit Stahlplatten verschweißt waren.
    Sie war ein ruhiges Geschöpf, das bald volljährig wurde, und auch ein hübsches, obgleich sie das nicht wußte. Wegen des von ihr gewählten Wohnorts haftete der Gestank alten Eisens an ihr, und normalerweise hätte man erwarten sollen, daß sie für ziemlich viel Klatsch am Ort gesorgt hätte. Aber das war nicht der Fall. Wenn die Einheimischen einmal an sie dachten, was selten genug vorkam, dann sahen sie in Jane eine langweilige nachbarschaftliche Institution, eine unbedeutende Fee, die schon seit einer halben Ewigkeit in der Region lebte.
    So beherrschend war der Einfluß des Drachen, daß nur sie und 7332 wußten, daß sie eigentlich menschlich war und erst seit wenigen Monaten dort wohnte.
    An jedem Wochentag warf die Schulglocke morgens ihren Zauber über die umgebenden Hügel und rief die Kinder zum Unterricht. Sie liefen die Hänge hinab, sprangen über die Bäche, kamen aus Höhlen, Baumlöchern und unterirdischen Wohnhäusern; getrieben von Kräften, die stärker waren als die eigenen, damit sie eine Erziehung erhielten.
    Als sie eines Morgens die Tür aufstieß, entdeckte Jane, daß der Frühling übers Land gekommen war. Der gefrorene Boden war aufgetaut und zu weichem Schlamm geworden, und ein wunderbarer erdiger Geruch lag in der Luft. Die Bäume waren noch immer kahl, schwarz und knospenlos, doch die braunen Gräser sahen hoffnungsfroh aus, und frisches Grün schimmerte in den Tiefen eines jeden Büschels. Ein Meryon mühte sich mit einer korrodierten Unterlegscheibe aus Zink ab, die er in sein Nest ziehen wollte.
    Ein Krokus war neben der Hüfte des Drachen gesprossen. Jane sprang zu Boden und hockte sich daneben, bewundernd, nicht berührend. Die Blütenblätter waren von einem zarten, fast durchscheinenden Weiß. Sie dufteten nicht und zitterten im Luftstrom ihres Atems.
    Das bedeutete Freiheit für sie: Etwas so Unbedeutendes zu tun wie sich einen Augenblick lang Zeit zu nehmen und eine Blume zu bewundern, und die völlige Nutzlosigkeit dieser Handlung war für sie sowohl Unterpfand als auch Belohnung,

Weitere Kostenlose Bücher