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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Speise und Trank für den Geist.
    Erneut tönte die Glocke, und die Muskeln in ihren Waden zuckten.
    Verkrampft stand Jane auf. Sie setzte sich den weitkrempigen Morgan-Kalabreser auf und steckte beide Hände tief in die Taschen ihrer weiten Hose. Der Reißverschluß ihrer Windjacke blieb offen.
    Es war ein zu schöner Tag für Eile. Gewaltsam widersetzte sie sich dem Zwang der Glocke und spazierte gemütlich den Hügel hinab.
    Nach kurzer Zeit pfiff sie ein Liedchen. Sie konnte nichts dagegen tun. Selbst als sie den Schulhof erreichte und ihn leer vorfand - die Türen waren geschlossen, und ein einsamer Aashund schlich über das Footballfeld -, blieb dieses warme Gefühl des Wohlbefindens in Jane. Heute ging sie zum Einkaufszentrum - Ratsnickle hatte versprochen, ihr zu zeigen, wie man den Wechselautomaten im Zubringerbus bediente. Erst beim Betreten des Schulgebäudes aus rotem Backstein verdüsterte sich ihre Stimmung. Die hohlen Echos der grauen Halle waren eine murmelnde Woge des Elends. Die Fluoreszenzlampen summten nervös.
    In der Tiefe des Gebäudes kreischte das gräßliche Wesen, das der Direktor in seinem Büro hielt. Ihr drehte sich der Magen um, als hätte ihr jemand mit dem Fingernagel am Rückgrat entlanggekratzt.
    Jane zog leicht die Schultern ein und eilte in ihr Klassenzimmer.
    Als sie durch die Tür trat, blies der fette alte Grunt aus beiden Backen wie eine Kröte. »Nun! Miß« - ein rascher, kaum wahrnehmbarer Blick von der Seite - »Alderberry, haben Sie sich dazu herabgelassen, uns mit Ihrer Anwesenheit zu beehren? Und nur sechs Minuten zu spät? Wie freundlich! Vielleicht macht es Ihnen nichts aus, dem Rest Klasse den Grund für Ihr ach-so-vornehmes Zuspätkommen mitzuteilen.«
    Jane errötete und blickte zu Boden. »Ich habe eine Blume betrachtet«, murmelte sie.
    Grunt legte eine Hand ans Ohr, beugte die Knie, so daß sie zu beiden Seiten hinausstanden, und senkte den Kopf. »Wie bitte?«
    »Eine Blume betrachtet.«
    »Ohhh, aha.« Sein Ausdruck war so übertrieben feierlich, daß er hier und da im Raum Gekicher auslöste. »Verloren in der hingerissenen Betrachtung unserer kostbaren kleinen Freunde, der Blumen, ja?« Jetzt lachte ihr die ganze Klasse offen ins Gesicht.
    Sie spürte, wie Grunt hinter ihr auf den Zehen herumschlich. Er benutzte diese rutschende, übertrieben sprunghafte Gangart, wenn er den hinteren Reihen etwas vorspielte. Grunt war stolz auf seine Schauspielkünste und brüstete sich oftmals seinen Schülern gegenüber damit, daß er dadurch zum Lehrer wurde, an den man sich im ganzen Distrikt am deutlichsten erinnerte - und daher zum besten Lehrer. »Aber meine liebe Miß Alderberry, wissen Sie denn nicht, daß man Blumen erst dann voll genießen kann, wenn man sie ...«
    Er stand jetzt hinter ihr, und sein säuerlicher Atem wehte ihr über die Schultern, und da sie gesehen hatte, wie er das gleiche Ritual bei anderen ausführte, wußte sie, daß er das scharfe kleine Kinn senkte, bis Kinn, höhnisches Grinsen und alles andere völlig in den fetten Falten von Hals und Wangen verschwanden und das mundlose Gesicht von dem bösartigen grauen Licht beherrscht wurde, das hinter den staubigen Gläsern seiner Brille glitzerte. Sie wußte, was käme, und sie wußte auch, daß sie es über sich ergehen lassen müßte, weil er sie sonst aus Rache nach dem Unterricht dabehielte und sie ganz bestimmt nicht zum Einkaufszentrum gehen könnte. Oder, schlimmer, er könnte sie zum Büro des Direktors schicken, damit sie aus erster Hand erführe, wie es war, einem Basilisken ins Gesicht zu sehen. Vor Scham kniff Jane die Augen fest zusammen.
    »... pflückt!« Er schob ihr die Hand zwischen die Beine und schnappte nach ihrem Schritt. Mit einem unwillkürlichen hühnerhaften Kreischen vollführte sie einen unbeholfenen Satz und wand sich davon. Die Klasse krümmte sich vor Heiterkeit, und alle lärmten, schnaubten, kicherten und lachten, als hätten sie noch nie zuvor gesehen, wie er sich diesen Scherz erlaubte.
    »Auf deinen Platz, Jane!« sagte Grunt streng. »Wir haben zu arbeiten und können keine Zeit mit deinen Dummheiten verschwenden.«
    Es war ein langer Weg zur letzten Reihe, wo die schwachen Schüler, auch sie und Ratsnickle, saßen.
    Jane hatte in der Klasse keine Freunde, und deswegen waren die anderen größtenteils ununterscheidbar voneinander. Aber selbst wenn sie alle gekannt hätte: Ratsnickle hätte noch immer unter ihren bösartigen Gesichtern und häßlichen Mienen

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