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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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verloren. Das steht ihm ins Gesicht geschrieben.«
    »Wie Unter dem Berge prophezeit wurde«, sagte Salome spöttisch, »und sogar speerschafttief in Runen in sein Granitherz eingemeißelt ist.«
    »He!« Hebog ballte die Hände zu Fäusten und warf einen funkelnden Blick zu ihr hinauf. »Das ist nicht komisch.«
    Ratsnickle trat zwischen die beiden und schob sie auseinander. »Halt’s Maul, Salome. Du auch, Hebog.« Er warf Jane einen vernichtenden Blick zu, als wäre alles irgendwie ihre Schuld. »Dennoch hat er recht. Es ist schlimmer als hoffnungslos. Diese Rusalka-Hexe, mit der Peter geht; weißt du, wer sie ist?«
    »Nein«, sagte Jane.
    Die Glocke läutete und zeigte das Ende der Pause an. Salome warf die Zigarette zu Boden. »Nun, zurück in die Tretmühle.«
    »Du kannst mich mal«, sagte Hebog.
    Jane holte Ratsnickle an der Tür ein, faßte ihn am Arm und fragte: »Wer?«
    Er grinste höhnisch. »Gwenhidwy the Green. Oh, komm schon, jetzt schüttel nicht so den Kopf. Du kennst Gwen. Ja, tust du - sie ist die Weidenkönigin persönlich.«

    Weil sie soviel Zeit im Einkaufszentrum verbrachte, alterte Jane rascher als die anderen Mädchen in ihrer Klasse; sie verbrachte endlose Tage innerhalb dieses prachtvollen Bereichs und ging dann wieder in eine Welt hinaus, die nicht älter war als zum Zeitpunkt des Hineingehens. Jane erledigte einen großen Teil der Hausaufgaben dort. Sie holte allmählich auf, und nur wegen des Vorurteils ihrer Lehrer, sie sei dumm, mußte sie weiterhin Nachhilfestunden beim bleichen Mann nehmen.
    »Was geschieht mit der Weidenkönigin?« fragte sie ihn an diesem Nachmittag.
    Er hörte zu lesen auf und sah direkt in ihre Richtung, jedoch über sie hinweg. »Du weißt, was der Weidenkönigin widerfährt.«
    »Ja, aber warum?«
    »Es ist eine Tradition.« Er kehrte zum Text zurück. »Worte, die über einen Lautversetzungs-Prozeß Transkriptionen aus dem Arabischen sind, schließen ›Abric‹ mit ein, genauer transkribiert als al-kibrit , für Schwefel; ›Alchitram‹, von al-qitran , für Pech; ›Almagest‹, oder al-majisti für ...«
    »Warum ist es eine Tradition?«
    »Ist einfach so.«
    »Aber warum?«
    Der bleiche Mann seufzte. Es war ein eigentümlich leidenschaftsloser Seufzer und dennoch der erste Anflug eines Gefühls, bei dem Jane den bleichen Mann je ertappt hatte, und daher so erschreckend. Er legte das Buch beiseite. »Es gibt Dinge«, sagte er, »die man wissen kann, und diese Dinge studieren wir, um Verständnis zu erlangen und unsere Macht zu mehren. Alchemie, Metaphysik und Nekromantie sind solche Felder des Wissens, und auf diesen und ihren Schwester-Wissenschaften basiert unsere ganze industrielle Zivilisation. Aber es gibt andere, dunklere Dinge, die sich dem Intellekt nicht fügen. Die Absicht der Göttin ist weder bekannt, noch kann man sie erforschen. Sie läßt uns, Männer wie Frauen, in einander immer näherkommenden Kreisen tanzen, und dieses Schicksal ist stets dasselbe und unausweichlich. Sie sagt uns den Grund hierfür nicht.«
    »Sie haben gesagt, es gäbe keine Kräfte von außen, die unser Leben beherrschen. Daß es nichts weiter gäbe außer Möglichkeiten und zufälligen Ereignissen.«
    Er hob die Schultern.
    »Haben Sie gesagt!«
    »Die Göttin ist undurchschaubar, und ihre Absichten sind unergründlich und unabwendbar. Sie mögen ebensogut zufällig sein. Wir leben unser kurzes Leben in Unwissenheit, und dann sterben wir. Das ist alles.«
    »Aber alle anderen sterben irgendwann. Die Weidenkönigin stirbt dieses Jahr!«
    »Hast du mir je zugehört?« Mit kurzen heftigen Bewegungen steckte er sich eine frische Zigarette in den Mund, zündete sie an und schleuderte das Pappstreichholz weg. Es prallte heftig gegen die Tafel. »Die Göttin will Blut. Und was die Göttin will, soll sie haben. So oder so. Wenn ein gelegentliches Opfer ihr Verlangen von uns abwendet - nun gut, dann ist das ein Fall, aus dem für die größte Anzahl das größtmögliche Gute erwächst.«
    »Ja, aber ...«
    Der bleiche Mann stand auf - Jane sah ihn zum erstenmal aufstehen - und schritt zum Fenster, wobei er eine feine blaue Linie Tabakqualm nach sich zog. Die Scheiben waren mit Papierblumen, Phalli und Eiern geschmückt, um den Frühling zu begrüßen. An den Rändern wurden sie bereits weiß. Er sah durch das streifige Glas und das Maschengitter hinaus, obgleich es von hier aus nichts weiter zu sehen gab als die Rückfront des Gymnasiums und die Laderampe der

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