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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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gesprochen hatte, denn er schlug die Augen zu, sobald er ausgeredet hatte, und dann schwieg dieses edle Messinggesicht wieder wie ein Grab. Es mochte ein Wachtraum gewesen sein. Aber ich hatte meine Befehle, also ging ich zum Zauberer Bongay und legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn zu wecken. Doch er wälzte sich nur auf die andere Seite. Die Decke rutschte herab, und ich sah, wie furchteinflößend erregt er im Schlaf war.
    Sehen Sie, Bongay hatte die Angewohnheit, seinen Trieben nachzugeben, wenn sie in ihm hochkamen. Um die Sinne zu schärfen, verstehen Sie. Ich war der erste weibliche Laborassistent, den er je beschäftigt hatte, aber ich wußte aus Erfahrung, daß er von mir die gleichen gewissen Gunstbeweise verlangte, die er von den jungen männlichen Doktorstudenten erhielt.«
    Bedeutungsvoll hob sie eine Braue.
    »Sie meinen ...?« fragte Jane und wußte nicht so ganz genau, was sie meinte.
    »Genau. Meine Hämorrhoiden standen voll in Blüte. Der Gedanke, ihm gefällig zu sein, war unerträglich. Eine Stunde verstrich. Der Kopf öffnete erneut die Augen. Erneut sprach er:
    Zeit war.
    Diesmal war ich mir sicher, daß der Kopf gesprochen hatte. Aber jetzt wußte ich - trotz meines verständlichen Widerstrebens -, daß ich einen ernsthaften Fehler begangen hatte, als ich ihn beim ersten Mal nicht geweckt hatte. Wenn ich ihn jetzt weckte, würde er mich gewiß bestrafen, weil ich ihn nicht früher geweckt hatte. Ich war in einer verzwickten Lage. Ich schwankte eine gute Stunde lang, was ich tun sollte. Am Ende dieser Stunden sprach der Kopf ein drittes und letztes Mal:
    Zeit ist vorbei , sagte er.
    Er verdrehte die Augen, und dann roch es brenzlig. Der Messingkopf strahlte Hitze aus, eine immer größerer Hitze, bis das Metall tatsächlich glühte. Ich kreischte, und Bongay erwachte.
    Ist er bei Bewußtsein? wollte Bongay wissen. Ich muß mit ihm sprechen. Es gibt Dinge, die muß ich erklären, ehe ...
    Dann sah er den glühenden Kopf und das Lötzinn, das in kleinen Flüßchen von den Nähten am Hals herablief, zusammen mit dem Gold und Silber der Schaltkreise. Da kreischte der Zauberer Bongay seinerseits in solcher Wut, daß ich aus Furcht vor seinem Zorn floh.«
    Sie lachte. »Wegen dieses Vorfalls hat er Amt und Leben verloren. Das ist gegen Ende des Fiskaljahres geschehen, und die Universität hatte sich auf diese große Geldsumme verlassen. Auf Befehl des Bursar wurde jeder hingerichtet, der in dieses Fiasko verstrickt war.«
    »Wie haben Sie überlebt?«
    »Sie brauchten jemanden, der den Abschlußbericht schrieb. Der Zauberer Bongay, sein Messingkopf und furchtbarer Untergang: Eine frühe Lektion gelernt. Kann gut sein, daß Sie ihn gelesen haben. Aber das war der Vorfall, der mich gelehrt hatte, niemals wieder meine Pflichten zu vernachlässigen. Wachsamkeit, Miß Alderberry! Das muß stets unsere Parole sein - Wachsamkeit!«
    »Ich könnte bestimmt aufholen. Wenn ich nur einen kleinen Hinweis darauf hätte, was ich falsch mache.«
    »Schön, schön«, sagte Dr. Nemesis. »Ich habe gewußt, daß unser kleines Gespräch eine Hilfe wäre. Denken Sie nur stets daran, daß wir Quoten einhalten müssen. Wir können niemanden bevorzugen. Um Sie zu behalten, müssen wir einen anderen verdienstvollen Studenten ziehen lassen. Den Zehent zu überleben ist ein Privileg, kein Recht. Da ist es gleich, wie gut Sie als Student sind.« Sie waren zu ihrem Büro gelangt. Sie schloß die Tür auf, trat ein und drehte sich um. »Und denken Sie auch daran, daß Ihnen meine Tür stets offensteht.«
    Sie schloß sie Jane vor der Nase.

    Im Studentenaufzug von den Seminarräumen zu den drei Stockwerken, die man die Lady-Habundia-Wohnanlage für Weibliche Studenten nannte, fuhren mehrere Dutzend geschwätziger Studenten mit, die Hälfte davon mit Fahrrädern. Jane kam sich ihnen gegenüber zugleich unter- wie auch überlegen vor. Die meisten nahmen alles ziemlich locker und verplemperten ihre Zeit, während sie eifrig das beste daraus machte. Auf der anderen Seite ließ sich nicht leugnen, daß sie viel Spaß hatten und Jane zumeist nicht.
    Ein Ghettoblaster wurde eingeschaltet. Einige tanzten zum Pfeifen von Elfenflöten und Synthesizerklängen. Zwei Froudlings mit windhundschlanken Gesichtern, vielleicht Schauspielschüler, führten einen choreographierten Schwertkampf vor. Sie wirbelten umher, traten, sprangen und parierten Hiebe von eingebildeten Säbeln. Abseits davon, in einer Ecke, hatten mehrere Willies eine

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