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Die Tochter des Tuchhandlers

Titel: Die Tochter des Tuchhandlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilken Constanze
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Stirn, und er begann zu laufen, so schnell seine alten Beine es zuließen. Die Morgenröte tauchte Lucca in ein flammendes Rotorange und warf erste Strahlen auf die weiße Fassade von San Michele. Über dem Portal stand drohend der Erzengel Michael, und Alberto duckte sich unbewusst unter den Schwingen des Racheengels. Nur noch eine Querstraße, und er hätte die Piazza von San Michele erreicht, auf der die Händler jetzt ihre Stände aufbauten.
    Sein Herz schlug hart in seiner Brust, und er keuchte schwer beim Laufen. Der Umhang verfing sich immer wieder in seinen Beinen, so dass er auf dem nassen Boden fast gestürzt wäre. Er konnte den Verfolger bereits hören und warf sich mit letzter Kraft um eine Hausecke. Blindlings stolperte er jetzt durch die Gassen, stieß mit einem Wasserträger zusammen, der fluchend hinter ihm herschrie, und brach schließlich vor einem schmiedeeisernen Tor zusammen, ohne zu wissen, wo er sich befand. »Helft mir!«, schrie er heiser und rüttelte verzweifelt an den Gitterstäben.
    Sein Verfolger kam um die Ecke gerannt, und er sah schon das Metall eines Dolches aufblitzen, als das Tor vor ihm geöffnet und er von kräftigen Händen hineingezogen wurde. »Heilige Madonna! O Barmherziger!«, flüsterte er.
    Er fühlte jedoch, dass ihm die Sinne schwanden und er Gestalten und Stimmen nur noch wie durch einen Nebel wahrnahm. Man hatte ihn gegen eine Wand gelehnt und seine Lippen benetzt, und jemand sagte: »Wenn das kein Wink des Schicksals ist! Mari, hat es Euch so gut bei uns gefallen, dass Ihr uns schon wieder besucht?«
    Die Stimme, oh, diese Stimme! Sein Atem ging stoßweise, und sein Herz raste, doch es gelang ihm, die Augen zu öffnen und mit rastlos umherirrendem Blick nach dem Besitzer dieser Stimme zu suchen. Ein Mann in dunklem Samt, der Kerker … In seinem Kopf überschlugen sich Erinnerungen, ja, die Stimme gehörte zu jenem Unbekannten im Kerker! Er versuchte, die Nebel vor seinem Auge zu durchdringen, und erhaschte einen Blick auf dunkle Locken und ein schönes Männergesicht, das ihn neugierig ansah.
    Â»Was ist geschehen, Mari? Wer ist hinter Euch her? Sagt mir, wer die Verräter sind! Sagt es mir!«
    Er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen. Lichter, Kristall, Musik, das Fest des Marchese, und alle drehten sich im Kreis. Alberto Mari streckte die Hände nach dem Mann aus, den er vor sich tanzen sah, doch der schöne, schlanke Tänzer lachte und drehte sich im Takt der Musik davon. Das Herz des Gelehrten machte einige unregelmäßige Schläge, seine Lungenflügel pumpten vergeblich nach Luft. Jemand schlug ihm ins Gesicht, doch Alberto Mari spürte den Schmerz bereits nicht mehr. Er war auf dem Weg in eine andere Welt, und der Erzengel Michael erwartete ihn mit ausgebreiteten Schwingen.

XXV
    Der Tote im Kanal
    Am frühen Morgen eines Montags im Dezember 1525 trieb im Abwasserkanal der Via del Fosso, der an den größten lucchesischen Färbereien, der tintoria Pandolfi und der tintoria Guinigi, vorbeifloss, eine Leiche. Ein Färberjunge entdeckte den Männerkörper, der sich im Schilf verfangen hatte, und wollte hinuntersteigen, um nachzusehen, ob es Wertvolles zu holen gab. Die umliegenden Färber waren gerade damit beschäftigt, ihre Kessel anzuheizen und Farbsteine zu mahlen. Es fiel niemandem auf, als ein schlanker Mann mit langen, zum Schwanz gebundenen Haaren den Jungen zurückpfiff, ihm einen halben Scudo in die Hand drückte und ihn fortschickte. Danach kletterte der Mann selbst zu der Leiche hinunter, blieb dabei fluchend im knietiefen Morast stehen und schimpfte auf die Kälte, die ihm durch die nassen Stiefel in die Knochen fuhr.
    Mit gezielten Griffen, die zeigten, dass er nicht zum ersten Mal eine Leiche untersuchte, drehte der Mann den Toten auf den Rücken, wischte ihm den Schlamm aus dem Gesicht und nickte. Nachdem er sichergestellt hatte, dass Taschen und Gürtelbeutel leer waren, zog er dem Leichnam einen goldenen Ring von der Hand, steckte ihn ein und bekreuzigte sich, bevor er aus dem Morast auf festen Ufersand stieg. Oben angekommen fand er den Jungen, dem er den halben Scudo gegeben hatte, gab ihm eine weitere Münze und sagte: »Lauf zum giudice und sag, du hast den päpstlichen Sekretär Mari gefunden.«
    Â»Ist er aufgeschlitzt worden? Ich habe noch nie einen Aufgeschlitzten gesehen!«, sagte der Junge und wollte

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