Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Blick zeigte ihr, dass er
sie immer noch anstarrte. Sie hob die Hand zum Gruß. Dann wandte sich ab. Als sie
zwischen den Büschen durchschlüpfte, um zum Stadttor zu gelangen, spürte sie eine
Enge im Hals, die sie wegzuschlucken versuchte. Es gelang ihr nicht.
Sie passierte
das Tor, dann rannte sie die Gasse entlang, um Katrein nicht zu lange warten zu
lassen. In der Straße, die zu ihrem Haus führte, hörte sie eine Jungenstimme ihren
Namen rufen. Außer Atem hielt sie inne und blickte sich um. Ein kleiner Kerl stand
in einer Nebengasse und winkte sie zu sich her. Sie wunderte sich über seine Vorsicht
und dachte sich dann, dass die sicher von seinem Auftraggeber kam. Oder vielmehr
der Auftraggeberin, denn Pascal hatte sie ja eben erst getroffen. Sie nahm die Nachricht
entgegen, die der Kleine ihr hinhielt. Ungeduldig erbrach sie das Siegel, in der
Tat, Martha schrieb ihr. Nichts Wichtiges, nur Ort und Zeit eines Treffens. Der
Junge bekam eine Münze, sie lobte ihn für seine Umsicht, dann steckte sie die Nachricht
in ihre Börse, die sie unter den Röcken trug, und hastete weiter.
Im Haus
nahm sie die Treppen, so als wäre ein tollwütiger Hund hinter ihr her. Auf der Stiege
zum obersten Stockwerk musste sie langsamer machen. In ihrer Kammer hielt sie inne.
Ihre Seite stach, ihr Atem ging stoßweise, sie brauchte einige Augenblicke, um sich
zu erholen. Warum war sie so gerannt? Um die Enge in ihrem Hals zu vertreiben oder
um den Schmerz in der Brust durch einen anderen zu ersetzen?
Sie ging
zur Truhe, um das Kleid herauszuziehen, und hielt mitten in der Bewegung inne. Irgendetwas
stimmte nicht. Sie schaute sich um und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Das
Bett, die Kleidertruhe, ein Schemel und ein kleiner Tisch, alles stand an seinem
Platz so wie immer. War es der Geruch? Ein leiser Duft nach geschmortem Fleisch
ließ sich ausmachen, doch der konnte genauso gut von der Küche hochgezogen sein.
Durch die geschlossene Tür? Sie nahm das Kleid, verließ ihre Kammer und rannte die
Stufen nach unten. Katrein würde sich wundern, was sie so lange trieb. Sie würde
einen Plausch mit der Nachbarin erfinden. Wenn nur diese ganze Lügerei endlich ein
Ende haben würde!
Was hatte
Pascal gesagt? Sein Freund hatte die Baumwolle zu einem guten Preis erstanden. Das
war ein Grund zum Freuen, und genau das wollte sie tun. Nun mussten er und die Ware
nur wohlbehalten zurückkehren. Jolanthe hoffte, dass Mathies besonnen genug sein
würde, um die Sicherheit vor der Schnelligkeit zu wählen. Sie würde also weiter
bangen.
Kapitel 35
Sieglinde hatte sich in ihrer Kammer
gegen die geschlossene Tür gelehnt und den Atem angehalten, als sie hörte, wie Jolanthe
wieder in den Flur trat. Sie war froh darum, dass die Schwester so lautstark die
Treppen genommen hatte, als sie gekommen war. Diese Vorwarnung hatte es Sieglinde
ermöglicht, rechtzeitig aus Jolanthes Kammer in ihre eigene zu schlüpfen. Sie hätte
gewiss eine Ausrede gefunden, wenn die Schwester sie entdeckt hätte, dennoch war
es so besser. Jolanthe sollte nicht misstrauisch werden.
Wieder polterte
es auf den Stufen. Das Getrampel wurde leiser und fand seinen Abschluss im Knall
der zuschlagenden Haustür.
Gut, die
Schwester war wieder verschwunden. Was auch immer sie hier zu suchen gehabt hatte,
nun würde sie hoffentlich eine Weile fortbleiben. Sieglinde huschte in den Flur,
dann in den anderen Raum, lehnte die Tür an und blickte sich um. Der Truhendeckel
stand nun offen. Sonst hatte sich nichts verändert. Sieglinde ging in die Hocke
und hob vorsichtig Kleiderschicht für Kleiderschicht an. Mit der flachen Hand fuhr
sie die Oberfläche ab, spürte mit den Fingerspitzen nach etwas Verdächtigem. Sie
wusste nicht, wonach sie suchte. Nach einer verräterischen Botschaft vielleicht
am ehesten.
In der Truhe
befanden sich nur Bettwäsche und Kleidung. Sieglinde schloss den Deckel und kippte
sie, um mit den Knöcheln gegen die Unterseite zu klopfen. Vielleicht gab es einen
Hohlraum, eine Zwischenwand? Nichts. Auch die Dielen des Bodens saßen fest. Also
ließ sie die Truhe wieder in ihre ursprüngliche Stellung zurücksinken und vergaß
nicht, den Deckel wieder zu öffnen.
Als Nächstes
nahm sie sich das Bett vor. Darunter herrschte nur eine saubere Leere, die Sieglinde
wunderte. War Jolanthe doch sonst nicht so häuslich, aber in ihrer Kammer hielt
sie Ordnung. Ein geleerter Nachttopf stand unter dem Fenster. Sieglinde befühlte
das Laken, mit dem das Stroh
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