Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
der Bettstatt abgedeckt war. Mit den Fingerspitzen
spürte sie nach etwas Festem oder einem ungewöhnlichen Rascheln – nichts.
Sie richtete
sich auf und drehte sich einmal im Kreis. Denk nach!, befahl sie sich. Wo würdest
du etwas Verbotenes verstecken?Ihr Blick wanderte nach oben und blieb an
den Dachbalken hängen. Zwischen den Trägern hatte sich hier und da ein Spalt nach
oben gebildet, dort wo die Bretter der Decke nicht richtig auflagen. Sieglinde streckte
sich. Sie konnte nur die Unterseite der Balken berühren, kam nicht höher. Rasch
zog sie sich den Schemel heran, stieg hinauf und spähte in die Zwischenräume. In
einem durch ein Astloch besonders großen Hohlraum über einem der Querbalken konnte
sie etwas Helles erkennen. Sie stieg so hastig vom Hocker, dass er kippelte, schob
ihn unter die Stelle, kletterte wieder hoch und hielt schließlich ein kleines Büchlein
in der Hand. Sie wusste, was das war, sobald sie die Zahlenkolonnen und die davor
geschriebenen Bemerkungen las. Nur die erste Seite hatte Jolanthe gefüllt, und sie
führte dieses Buch genauso akribisch wie die anderen im Kontor. Der Beweis für ihre
heimlichen Geschäfte.
»Jetzt hab
ich dich, meine Liebe.«
Sieglinde
presste den Fund an ihre Brust, stieg wieder vom Hocker, vergewisserte sich, dass
alles an seinem rechten Platz stand, und verließ den Raum.
Im Flur
überflog sie Jolanthes Aufzeichnungen erneut. Ihr Blick blieb am neuesten Eintrag
hängen. Mit Datum hatte sie die Aufnahme eines Kredites vermerkt, der Sieglinde
kurz die Augen schließen ließ. Ich hab dich, dachte sie, und immer wieder: Ich hab
dich.
Der Vater
hielt sich seit dem Morgen im Kontor auf. Sie würde ihn dort antreffen, und sie
wusste nun, was sie zu tun hatte.
Noch während
sie das Kontor betrat und Winald am Regal mit den unzähligen Büchern stehen sah,
sagte sie: »Ich habe etwas mit Euch zu besprechen und etwas, das ich Euch zeigen
will. Es wird Euch interessieren.«
Den Korb mit nasser Wäsche zwischen
sich, gingen Katrein und Jolanthe die Straße entlang und erreichten das Kunsche
Haus. Schon als sie den Flur betrat, fühlte Jolanthe sich unwohl, was an Sieglindes
Blick liegen mochte, mit dem sie die Schwester musterte. Sie stand im Türrahmen
zur Küche.
Nun verschränkte
sie die Arme vor der Brust und sagte: »Vater will uns sprechen.«
»Ich muss
mit Katrein die Wäsche aufhängen«, entgegnete Jolanthe unwirsch, weil sie dieses
Gefühl der Vorahnung nicht an sich heranlassen wollte.
»Er wartet
oben.« Sieglinde wandte sich zur Treppe, und Jolanthe blieb nichts anderes, als
ihr zu folgen.
Vor dem
Kontor öffnete Sieglinde die Tür und ließ die Schwester zuerst eintreten. Winald
saß am Fenster in einem Sessel und blickte zu ihnen herüber, so als habe er seit
Stunden auf sie gewartet. Er bedeutete seinen Töchtern, sich auf zwei Hocker zu
setzen. Die Stille, die sich im Raum ausbreitete, fand Jolanthe kaum zu ertragen.
Sie hörte den Atem ihres Vaters und das Räuspern ihrer Schwester und fragte sich,
warum niemand sprechen wollte.
»Warum hast
du uns gerufen?«, brach sie das Schweigen, als sie es nicht länger aushielt.
»Du wirst
es dir denken können«, antwortete der Vater. »Erzähl mir, was du in den vergangenen
Tagen getan hast.«
»Heute habe
ich mit Katrein die Wäsche am Fluss gewaschen«, begann sie. »Falls Ihr mich also
vermisst habt, ich …«, sie wusste nicht weiter. Dann zählte sie auf, welche Aufgaben
sie in den Tagen davor für den Haushalt und das Kontor erledigt hatte und kam sich
vor wie ein Fisch, der in einer trüben Brühe nach dem Zufluss sucht. Irgendwann
fiel ihr nichts mehr ein.
»Kennst
du dies?« Winald hielt ihr ein Buch entgegen, das verdächtig nach dem aussah, worin
sie die Einnahmen und Ausgaben ihrer heimlichen Geschäfte notiert hatte. Sie musste
doch den Überblick behalten, es konnte nicht angehen, dass ihr die Genauigkeit nun
zum Verhängnis wurde.
»Woher habt
Ihr das?«, fragte sie. Das Versteck in ihrem Zimmer war ihr so sicher vorgekommen,
und sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Vater es selbst entdeckt hatte. Offenbar
hatte sie Sieglinde mit ihrer Fügsamkeit nicht täuschen können. Die Schwester war
misstrauisch geblieben.
»Es ist
eine große Summe vermerkt, die geliehen wurde. Das Datum liegt noch nicht lange
zurück, unser Gespräch fand vorher statt. Du hast dich nicht an unsere Abmachung
gehalten, und ich kann dir nicht mit Worten sagen, wie sehr mich das
Weitere Kostenlose Bücher