Die Todesbotschaft
versuchte, allmählich wieder zu mir zu kommen. »Du musst los. Ich hab dir ein paar Pfannkuchen eingepackt. Du kannst sie am Flughafen essen.« Sie strich mir eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn und ließ einen Moment lang ihre Hand an meiner Wange ruhen. »Zum ersten Mal bin ich froh, dass du nach Berlin zurückfliegst.«
Ich legte meine Hand über ihre und hielt mich einen Moment lang an ihrem liebevollen Blick fest.
»Geh zurück in dein Leben, Finja«, sagte sie, »und nimm dir Zeit, mit alldem zurechtzukommen.«
Beim Betreten meiner Wohnung kam es mir vor, als kehrte ich von einer unendlich langen Reise zurück. Dabei war ich nur eine Woche fort gewesen. Meine Blicke saugten sich an den Dingen fest, die mir viel bedeuteten. So auch an meinen Pflanzen in der Küche und auf dem Balkon, die in der Zwischenzeit von Eva-Maria gepflegt worden waren. Im Wohnzimmer drückte ich die Starttaste des CD -Players und hörte gleich darauf die sanfte Stimme von Anna Ternheim. Ich stellte die Musik so laut, dass sie im Schlafzimmer noch zu hören war. Dann legte ich mich völlig erschöpft ins Bett und öffnete den Gesa-Ordner. Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich ihn wieder zur Seite legte. Die Qual und Verzweiflung, die meine leibliche Mutter allem Anschein nach nicht zur Ruhe hatte kommen lassen, war wie eine Hürde, die mir in meiner gegenwärtigen Verfassung unüberwindlich schien. Ich stellte den Ordner zwischen Nachttisch und Bett und löschte das Licht, um fast augenblicklich einzuschlafen.
Als ich aufwachte, hatte ich fast zwölf Stunden geschlafen und kam um vor Hunger. Ich musste gar nicht erst in meinen Kühlschrank sehen, um zu wissen, dass ich von dem wenigen, das sich darin befand, nicht satt werden würde. Nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, zog ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss und lief die Treppen hinunter. Ich war schon fast aus der Haustür, als mir der Brief einfiel. Mit etwas Glück würde er bereits in meinem Postkasten liegen.
Mit klopfendem Herzen nahm ich ihn heraus, wobei ich den Anflug von schlechtem Gewissen Adrian gegenüber verscheuchte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er seine Meinung änderte, wenn er erst einmal zu sich gekommen war.
Ich verstaute den Umschlag in meiner Tasche und ging zum Frühstücken ins Barcomi’s auf der Bergmannstraße. Es war der 1 . September und immer noch sehr warm. Nachdem ich einen freien Platz vor dem Café ergattert hatte, sog ich die entspannte, quirlige Atmosphäre auf der Straße wie einen lang ersehnten Duft durch die Nase. Je länger ich dort saß, desto freier konnte ich wieder atmen.
Während ich einen Muffin zu meinem Milchkaffee aß, ließ ich mir das Gespräch mit meinem Vater noch einmal durch den Kopf gehen. Inzwischen war ich felsenfest davon überzeugt, dass er die Gunst der Stunde genutzt und alles auf Carl geschoben hatte, der keinen Einspruch mehr erheben konnte. Ich versuchte mich jedoch damit zu beruhigen, dass er sicher nicht gelogen hatte, was die Rückgabe der DVD s an denjenigen betraf, der für die Morde verantwortlich war. Ich wollte keine Angst mehr haben, auf dem Weg durch meinen Kiez vor ein Auto gestoßen zu werden.
Der Alptraum, der letztlich sechs Menschen das Leben gekostet hatte, hatte mich in einer Art Betäubung zurückgelassen. Nach dem, was geschehen war, hätte ich eigentlich unablässig weinen müssen, aber es kam mir vor, als hätte ich meine Trauer in ein Sieb mit winzigen Löchern, das nur kleine Mengen hindurchließ, verpackt. Gerade so viel, wie ich im Augenblick ertragen konnte.
Zum ersten Mal seit vier Tagen schaltete ich mein Handy wieder ein und hörte eine Nachricht von Richard ab, der sich in Berlin zurückmeldete. Ein paar Stunden später hatte er mir noch einmal auf die Mailbox gesprochen: »Finja?«, hörte ich ihn in leicht angetrunkenem Zustand sagen. »Wenn du mich nicht bald zurückrufst, komme ich um vor Sehnsucht. Wo steckst du nur?« Und noch ein drittes Mal war er zu hören, dieses Mal nüchtern. »Ich hoffe, ich habe dir heute Nacht keinen Unsinn auf dein Band gesprochen. Ruf mich an, wenn du es abgehört hast.«
Ich zögerte keine Sekunde. Ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, schlug ich vor, in der nächsten halben Stunde bei ihm vorbeizukommen. Sein »Prima, dann mach dich auf den Weg!« hatte die Kraft, meinen Puls zu beschleunigen. Ich ging jedoch nicht auf direktem Weg zu ihm, sondern lief erst noch einmal nach Hause, um mich umzuziehen. Keine
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