Die Todesgöttin
Ruhe. Die Totengöttin Kali schien in einen langen Schlaf versunken zu sein. Es gab zwar immer wieder Versuche, sie ins Leben zurückzurufen, aber die Tongs in Indien und auch hier in London, wo sich ihre größte Filiale befindet, kamen nicht so recht zum Zuge. Andere Probleme waren wichtiger. Die Armut in Indien, der Rassenhass in England, der Kampf ums nackte Überleben, Arbeitslosigkeit, Studentenunruhen auch unter meinen Landsleuten und zum Schluss die Erkenntnis, dass alles nichts half. Die Weißen haben das Geld, sie sind stärker, sie sind mächtiger. In den Ausländerghettos von London, wo die meisten Farbigen leben, breitete sich Hass und Resignation aus. Ein idealer Nährboden für die Lehren der Kali. Es ging praktisch ohne großen Übergang. Auf einmal waren sie da. Die Tongs standen auf, als hätte es sie schon immer gegeben, und sie fanden Diener. Unter den Intellektuellen ebenso wie unter den Ärmsten. Alte Verbindungen wurden wieder aktiviert. Man arbeitete mit den Banden im Mutterland zusammen, wo es einen geheimnisvollen Tempel geben soll, in dem die Göttin Kali als lebende Figur in all ihrer Schrecklichkeit existiert. Man verehrte sie wieder. Die Menschen glaubten an sie, an ihre Macht und an ihre Stärke. Um sie noch stärker zu machen, wurden ihr zu Ehren Opfer gebracht. Man schuf eine neue Kette, weil die alte zerstört worden war. Von einem Mann namens Mandra Korab - der fürchtete sich nicht und stellte sich den Tongs entgegen.«
»Moment mal«, unterbrach ich den Inder. »Sie haben den Namen Mandra Korab erwähnt?«
»Ja, das ist der Mutige.«
Mandra Korab kannte ich. Gut sogar, wir hatten schon gemeinsam Seite an Seite gekämpft. Zuletzt hier in London gegen die Sylphen, die unheimlichen Käfer. [1]
»Und Mandra Korab hat diese Kette, von der sie sprachen, vernichtet?«
»So ist es«, bestätigte Kisulah.
»Aber das war in Indien.«
»ja.«
»Und wann?«
»Den genauen Zeitpunkt kann ich nicht sagen«, antwortete er und hob die Schultern. »Es muss vielleicht einige Jahre her sein.«
»Welche Bewandtnis hat es mit dieser Kette?« erkundigte ich mich bei dem Inder.
Der schaute mich aus großen Augen an. »Das wissen Sie nicht?«
»Nein.«
Bill winkte ab. »Ist keine Bildungslücke, John. Ich wusste es bis vor einigen Stunden auch nicht. Du kannst es noch einmal erklären, Kisulah.«
»Ja, natürlich. Die Kette besteht aus menschlichen Köpfen. Es sind die Köpfe der Opfer. Zwölf müssen um den Hals der Todesgöttin hängen, dann ist der Kreis geschlossen, denn zwölf Monate hat das Jahr, und es gibt zwölf Tierkreiszeichen. Wird aus irgendeinem Grunde die Kette unterbrochen, so muss sich so rasch wie möglich ein neues Opfer finden, um mit seinem Kopf den Kreis wieder zu schließen. So lauten die ehernen Gesetze.«
»Und die Kette ist unterbrochen worden?«
»Ja, Sir.« Kisulah nickte. »Man hat sie unterbrochen. Es war kein Versehen, man hat es bewusst getan, weil die Köpfe, wenn sie um den Hals der Totengöttin hängen, etwas von Kalis Magie in sich aufnehmen und den jeweiligen Besitzer eines Kopfes zu einem mächtigen Menschen machen. Ein Kopf wurde aus dem Kettenverbund gelöst, und dieser Kopf befindet sich auf dem Weg nach London, um hier übergeben zu werden.«
»Was sagen Sie da?« Ich war wie elektrisiert.
Kisulah nickte. »Deshalb habe ich ja das Treffen auf dem Flughafen vorgeschlagen. Der Bote aus Indien trifft heute hier in London ein. Er wird den Kopf, der einmal an der Kette der Totengöttin gehangen hat, mitbringen, damit seine Macht auch auf die Londoner Tongs übergeht.«
Das war ein hartes Stück.
»John, das ist wirklich kein Spaß«, sagte der Reporter.
»Glaube ich dir gern. Um zu spaßen, dafür ist das Thema auch viel zu ernst.« Ich schüttelte den Kopf und leerte meine Tasse. »Das ist schlimm, sogar sehr schlimm.«
»Aber Sie können noch etwas verhindern. Die Maschine wird in knapp vierzig Minuten landen. Sie müssen sich nur den Mann herauspicken und verhindern, dass er den Kopf aus der Kette nach London einschleust. Dann wird es nicht so schlimm.«
»Wird der Bote abgeholt?«
»Wahrscheinlich. Genau konnte ich es nicht in Erfahrung bringen.«
»Ich hätte doch Suko mitbringen sollen«, sagte ich mehr zu mir selbst.
»dass ich daran auch nicht gedacht habe. Unter Umständen haben wir es mit zahlreichen Gegnern zu tun, und die sind wie Kamikaze-Flieger, immer bereit, ihr Leben zu opfern.«
Bill hatte meine gemurmelten Worte vernommen.
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