Die Todesgruft von Bally Moran
mußte, und er prahlte mit vielen einflußreichen Freunden. Peggy allerdings gewann den Eindruck, daß man ihm darin nicht so recht glauben durfte. Er schrieb, daß er sich einen blauen Samtanzug gekauft hätte, der im Farbton zu seinen Augen passen würde und ihn sehr gut kleidete.
Peggy verzog geringschätzig den Mund. Es mußte sich um einen reichlich oberflächlichen jungen Mann gehandelt haben, wenn er ein Jahr vor der Französischen Revolution aus Paris nichts Interessanteres zu berichten wußte. Aber dann mußte sie ihm zugestehen, daß er schließlich an seine Mutter geschrieben hatte und diese sich vermutlich für gar nichts anderes interessiert hatte, als eben für jene ganz persönlichen Dinge.
Am Nachmittag konnte Peggy ihre Schwägerin aus dem von vermoderten Kleidern übersäten Zimmer locken und sie zu einem Entdeckungsgang in den Schloßhof überreden. Jesse sah man an, daß sie nur widerstrebend Peggy begleitete und sich bemühte, das eigene Unbehagen mit einem gewissen Galgenhumor zu überspielen.
Tiefhängende Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, und man konnte nur im Vergleich zum Schloßinnern behaupten, daß der von Gras und Unkraut überwucherte Hof mit den düsteren grauen Mauern und den zu Ruinen eingestürzten Nebengebäuden ein angenehmer Aufenthaltsort wäre. Doch die frische Luft und der warme Wind, der ihnen ins Gesicht blies, tat ihnen so gut, daß sie über die trostlose Atmosphäre hinwegsehen konnten.
Sie hatten gerade einen der zerfallenen Ecktürme durchforscht, als der Professor eintraf. Wie am Abend zuvor angedeutet, hatte er sich von Mrs. Mullins Pferd und Wagen geliehen. Die hohen Räder holperten laut über die Pflastersteine.
»Die Sonne kommt bestimmt gleich wieder raus«, rief er, brachte das Pferd mitten im Schloßhof zum Stehen und sprang mit erstaunlicher Behendigkeit vom Wagen. »Ich finde es großartig, daß Sie sich hier draußen ein bißchen die Beine vertreten.« Seine Blicke wanderten rasch über ihre Gesichter, die Brauen ein wenig hochgezogen. Man hatte den Eindruck, daß ihm eine Frage auf der Zunge lag.
So sehr es Peggy drängte, ihm von ihren nächtlichen Erlebnissen zu erzählen, sie konnte seine unverhohlene Neugier nicht ausstehen.
Sie begrüßte ihn also mit einem belanglosen Lächeln und hoffte, daß er in Gegenwart von Jesse nicht gleich mit einem Gespräch über den Schloßspuk anfangen würde. Aber es war Jesse selbst, die den Professor gleich nach der Begrüßung zum Erzählen aufforderte.
Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und hakte sich bei dem Professor ein. »Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind. Sie haben uns sicherlich eine Menge zu sagen. Hoffentlich haben Sie Zeit, um zum Tee zu bleiben.«
Des Professors Brauen verkündeten, wie geschmeichelt er sich fühlte. Es war offensichtlich, daß Jesse ihren ganzen Charme aufwendete, um ihm in den nächsten Stunden auch die kleinste Einzelheit über das Schloß aus der Nase zu ziehen. Der aufmerksame Ausdruck in des Professors intelligenten Augen beruhigte jedoch Peggy. Er schien Jesse trotz allem durchschaut zu haben, machte jedoch aufs liebenswürdigste das kleine Spiel mit.
»Sie wollten uns von Bally Moran und meinen Vorfahren erzählen«, kam Jesse ohne Umschweife zum Thema und zog ihn zu einem Mäuerchen, das man als Bank benutzen konnte. »Vor allem möchte ich wissen, warum Onkel Patrick diese merkwürdige Bedingung ins Testament gesetzt hat, und was an Bally Moran unheimlich sein soll.«
Der Professor blickte Jesse sekundenlang forschend an. Dann jedoch entspannten sich seine Züge, er machte es sich auf der Mauer so bequem wie möglich und begann: »Das ist eine lange Geschichte, und viele Einzelheiten werden für einen Laien uninteressant sein. Ich werde also versuchen, das Wichtigste für Sie zusammenzufassen. Die St. Mores, das ist der richtige Familienname, waren Normannen. Wußten Sie das?«
»Nein. Ich dachte immer, es wären Iren gewesen.«
»Nun, im Laufe der Jahrhunderte wurden sie das auch. Aber ursprünglich war es eine rein normannische Familie, die im dreizehnten Jahrhundert von der Ostküste Irlands hierherzog und dieses Schloß erbaute. Später heirateten die Söhne und Töchter in irische Familien ein, und heute können Sie mit Recht von sich behaupten, daß Sie eine Irin sind.«
Jesse hatte mit scheinbarem Interesse zugehört und dabei angelegentlich ihren Fuß betrachtet. Nun hob sie den Kopf und sagte, ohne ihn anzusehen: »Professor
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