Die Todesgruft von Bally Moran
verschwand das Grinsen, und sie schüttelte überrascht den Kopf. »Aber Peggy, hast du das wirklich nicht gesehen?« Sie hob die Bibel mit beiden Händen hoch und bog die Seiten so weit nach hinten zusammen, daß es im Buchrücken verdächtig krachte. »Sieh doch.«
Zwischen den beiden Seiten konnte man jetzt die winzigen Reste einer herausgerissenen Seite erkennen.
»Natürlich! Wie konnte ich so etwas übersehen!« Peggy freute sich wie ein Kind, daß das Rätsel eine Lösung gefunden hatte. »Warte mal«, ihr Finger glitt noch einmal über die letzte beschriebene Seite, »dann ist hier 1772 das letztemal ein Tod vermerkt worden, und alles andere steht auf der herausgerissenen Seite. »Mein Gott, bin ich dumm, daß ich das nicht gemerkt habe.« Man konnte sehen, daß sie sich ein bißchen ärgerte, denn im allgemeinen wurde sie für ihr scharfes Auge und für ihre gute Kombinationsgabe gelobt.
»Das kann jedem mal passieren«, versuchte Jesse sie zu trösten und stand auf, um ein paar Kleider in den Schrank zu hängen. »Du hast so angestrengt über das vermeintliche Geheimnis nachgedacht, daß dir eine so einfache Lösung gar nicht in den Sinn kam.«
Aber Peggy fand keinen Trost in diesen Worten; ihr Selbstbewußtsein war ziemlich angeknackst worden. Als Jesse ihre Sachen eingeräumt hatte, ging Peggy in ihr Zimmer hinüber, und Jesse schlenderte ihr hinterher, blieb indessen in dem kleinen Gang vor der Tür stehen.
»Du könntest wirklich in meinem Zimmer schlafen«, schlug sie vor, ohne das Zimmer zu betreten. »Das ist ja ein trostloser Raum.«
»So schlimm ist es nicht.« Im nächsten Augenblick mußte sie jedoch feststellen, daß es in dem Zimmer weder eine Kommode noch einen Toilettentisch gab, nur der Aufsatz eines alten Eßzimmerschrankes stand in einer Ecke. Als sie die Tür öffnete, entdeckte sie, daß er bis obenhin mit Kleidern vollgepackt war.
Jesse trat neugierig ein paar Schritt näher. »Was sind das für Kleider?«
Peggy zog mit spitzen Fingern ein braunes, stark zerknittertes Satinkleid heraus. Unangenehmer Modergeruch stieg ihr entgegen, und sie rümpfte die Nase. Sie wollte das Kleid sofort wieder zurückstopfen, denn sie hatte keine Lust, ihre eigenen Sachen in den muffigen Kasten zu legen, aber in Jesse meldete sich die Moderedakteurin, und auf ihr Drängen mußte Peggy alle Kleider in das Rosenzimmer bringen. Jesse hatte trotz ihrer Neugier keinen Schritt über die Schwelle von Peggys Zimmer gemacht.
»Sie stammen alle ungefähr aus dem Jahre 1915«, sagte sie und breitete eines über dem Ledersessel aus. »Eine scheußliche Mode.«
Aber Peggy hörte ihr nicht zu. Unter einer Zeitung, die Jesses Aussage über das Alter der Kleider bestätigte, hatte sie einen ganzen Schatz an alten Tanzkarten, Einladungen und allen möglichen Kleinigkeiten gefunden, die ein junges Mädchen zur Erinnerung an ihre ersten glücklichen Erlebnisse aufhob. Da war auch ein Fotoalbum, ein Tagebuch und ein Päckchen Briefe. Die Dinge verrieten bestimmt eine Menge über die Frau, der diese Kleider gehört hatten, überlegte Peggy und holte alles heraus. Als sie nach den Briefen griff, bröckelten die Ränder ab und fielen als feiner Staub zu Boden. Überrascht betrachtete sie sich das Päckchen genauer und erkannte, daß die Briefe viel älter waren als all die anderen Sachen. Sie trug sie vorsichtig zu ihrem Bett und breitete sie auf dem Deckel des Koffers aus, der noch daraufstand.
Mit äußerster Sorgfalt und mit Hilfe eines Kammstiels faltete sie den ersten Brief auseinander, und sie schluckte vor Freude, als sie das Datum las. Der Brief war 1788 geschrieben worden. Wenn der Professor ihr doch gestern abend bloß mehr erzählt hätte, wünschte sie sich. Dann wüßte sie, ob der Brief noch vor der mysteriösen Flucht der Bewohner dieses Schlosses geschrieben worden war.
Alle vier Briefe waren von einem jungen Mann geschrieben worden, dessen Namen sie mühsam mit Gerard St. More entzifferte; er hatte eine entsetzlich verschnörkelte Handschrift. Die Briefe waren an seine Mutter gerichtet, und es kostete sie einige Mühe, sie zu lesen; nicht nur wegen der unmöglichen Handschrift, sondern auch wegen seiner entsetzlich geschraubten Ausdrucksweise. Er schrieb aus Paris und schien sich dort köstlich zu amüsieren. Da war von Bällen die Rede und Besuchen bei irgendwelchen Leuten, deren Namen sie nicht entziffern konnte. Der Inhalt verriet ihr, daß er jung und bei den Frauen sehr beliebt gewesen sein
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