Die Todesspirale
verlassen und uns rückhaltlos der Musik hingeben. Manchmal sangen wir auch, legten verrückte Melodien über die Bluesharmonien und erfanden passende Texte. Ich hatte mir bisher mindestens siebzehn verschiedene Pertti Ström Blues ausgedacht, mit denen ich mir den Stress vom Leib sang. Doch diesmal spielten wir nur, und nach einer Weile fing auch Schnüppchen in meinem Bauch zu tanzen an. Wir webten uns ein Haus aus Musik, eine warme, sichere Höhle, die den Rest der Welt ausschloss, für lange Zeit.
Vierzehn
Mein Zuhause ist auf dem Eis. Überall sonst fühle ich mich fremd.
Aber auf dem Eis weiß ich, wer ich bin, selbst auf fremdem Eis, dessen Oberfläche ich vorsichtig erkunde. Ich würde so gern einmal mit Janne auf dem ersten Eis im Herbst laufen, auf Natureis, das unter den Kufen klagend singt. Es gibt unter unserem Gewicht nach und trägt uns doch, wenn wir nur schnell genug sind. Ich möchte unser Bild auf der klaren schwarzen Fläche betrachten.
Dort würde ich nicht mein eigenes, hässliches Ich sehen, sondern diejenige, die ich wirklich einmal sein will.
Ich blätterte in Nooras letztem vollständigem Tagebuch, während ich versuchte, Tomi Liikanen zu erreichen. Noora hatte Peter Høegs Buch Fräulein Smillas Gespür für Schnee gelesen und daraufhin begonnen, über ihr Verhältnis zum Eis nachzudenken.
Natürlich gibt es Zeiten, wo ich mit dem Eis kämpfe. Manchmal ist es einfach zu weich und hebt mich nicht in die Luft. Dann wieder spüre ich seine Härte, wenn ich auf es zufliege und meine Haltung nicht mehr korrigieren kann. Manchmal träume ich, ich wäre zu schwer für das Eis. Es kann mich nicht mehr tragen, ich versinke in ihm, während am Rand der Bahn Gelächter aufbraust.
Das Eis verschlingt mich, und niemand eilt mir zu Hilfe. Aber meistens sind wir eins, das Eis und ich. Ich wachse aus dem Eis, und das Eis setzt sich in mir fort.
Die Handschrift war nicht mehr kindlich rund. Der erste Bogen beim großen M war nach wie vor übermäßig hoch, die Unterlängen der kleinen Buchstaben wurden von der nächsten Zeile fast überdeckt. Und die Zeilenenden schienen auf-fliegen zu wollen, als hätte Noora wie im Rausch geschrieben. Ich blätterte um, auf der nächsten Seite wurde die Schrift noch undeutlicher.
Zu Janne ist das Eis viel öfter unfreundlich als zu mir. Es hält ihn nicht aufrecht, es schlägt ihm die Knie blau. Einmal hat es ihn am Kinn verletzt, die Narbe sieht man heute noch. Manchmal tanzt es fröhlich mit ihm, wie ein drittes, verbindendes Wesen zwischen uns. Silja wird vom Eis geliebt, wie von allen, und ich bin eifersüchtig auf mein Eis. Rami gleicht mir, er fürchtet, dass das Eis ihn so hässlich erscheinen lässt, wie er ist. Elena hat das seltsamste Verhältnis zum Eis. Für sie ist es ein unpersönliches Instrument, wichtig nur dann, wenn es nützlich ist. Elena will alles zähmen, doch das Eis hat sich noch nie zähmen lassen.
Ulrika dagegen hat Angst vor dem Eis. Ich habe sie einmal stol-pern sehen, als sie beim Synchronlauf die Preise verteilte, und seitdem hält sie sich immer an der Bande fest oder stützt sich auf Jannes Arm. Blöde, lächerliche Ulrika!
Nun begann Noora wieder, Ulrikas Schwärmerei für Janne durchzuhecheln, mit der ganzen Grausamkeit einer Sechzehnjährigen, für die jeder über dreißig hoffnungslos verkalkt ist.
Als wollte Ulrika Janne aussaugen, um selbst wieder jung zu werden. Rami ist genauso, das erkenne ich immer deutlicher. Er ist ekelhaft und schmutzig. Ich begreife, wie elend Janne sich fühlen muss. Könnte ich ihm doch nur alles erzählen, offen mit ihm reden.
Aber dann würde er mich hassen.
Auf der nächsten Seite war eine Opernkarte eingeklebt. Ulrika hatte das Eisläufertrio zu «Tosca» eingeladen und in der Pause mit Janne Sherry getrunken, worüber sich Noora maß
los aufregte. Fast tat mir Ulrika Leid, schließlich ist es nicht verboten, sich in einen Jahrzehnte jüngeren Menschen zu verlieben. Wäre Janne ein Mädchen und Ulrika ein Mann gewesen, hätte niemand ein Wort darüber verloren.
Nach einigen Seiten vehementer Schmähungen kehrte Noora zum Eisthema zurück.
Es ist schwer zu glauben, dass Mutsch jemals irgendeine Beziehung zum Eis gehabt hat. Auf Schlittschuhen kann ich sie mir gerade noch vorstellen, sie hat mir ja das Eislaufen beigebracht, als ich klein war, aber bald danach selbst aufgehört zu laufen. Ich erinnere mich noch an die lächerlichen Stiefel, die sie als kleines Mädchen hatte. Sie liegen
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