Die Todesspirale
nicht in Tier-versuchen getestet wurde. Ich dachte an Pertsas Bericht über den Pädophilen, der mit Hundebildern kleine Mädchen an-lockte. Auch wenn Noora in vielerlei Hinsicht wie eine Erwachsene gelebt hatte, auf die Hundegeschichte hätte sie durchaus hereinfallen können. Vielleicht sollte ich einen eventuellen Zusammenhang zwischen Pertsas und meinem Fall doch nicht völlig ausschließen.
In Nooras Geldbörse befanden sich eine Karte für den Geldautomaten, sechzig Finnmark, ein Krankenversiche-rungsausweis mit einem Bild von Noora, auf dem sie mager und traurig aussah, ein Bibliotheksausweis, eine Monatskarte für den Bus und diverse Fotos. Die einzigen Personen, die ich darauf erkannte, waren Silja und Janne. Hätte es sich nicht um Beweismaterial gehandelt, hätte ich Siljas Bild für Koivu eingesteckt. Es war im Halbprofil aufgenommen, und mit ihren feinen Gesichtszügen und dem strahlenden Lächeln sah Silja darauf aus wie ein Filmstar. Janne blickte direkt in die Kamera wie auf einem Passbild und schaute ernst drein. Auf dem zerknitterten Zeitungsfoto, das in einem Plastiketui steckte, lächelte er dagegen strahlender als nach einem gelungenen Sprung. Wem mochte dieses Lächeln gelten? Janne war der Einzige, von dem Noora zwei Fotos in der Geldbörse hatte. Ihre Eltern waren überhaupt nicht vertreten.
In der Tasche lagen außerdem ein Kalender, ein paar Schulbücher und ganz zuunterst das, was mich am meisten interessierte: Nooras sechzehntes Tagebuch, in blauen Stoff mit Chinamuster gebunden. Ich schlug es wahllos auf und sah leere Seiten. Noora hatte das Buch nur zur Hälfte voll geschrieben. Langsam blätterte ich zurück, bis mein Blick an Großbuchstaben hängen blieb.
ICH HALTE ES NICHT MEHR AUS! KEINER LIEBT
MICH!
Ich las den anschließenden, kleiner geschriebenen Text, Nooras schmerzliche Erkenntnis, dass Janne nicht mehr in ihr sah als seine Eislaufpartnerin. Sie fühlte sich immer einsam, außer beim Eislaufen mit Janne. Der Sport hielt sie aufrecht, der Eiskunstlauf und Janne gaben ihrem Leben Sinn.
Doch selbst auf ihren Sport hätte Noora verzichtet, wenn Janne … Nein, doch nicht. Und dennoch, NOORA LIEBT
JANNE, mit großen Buchstaben und immer wieder.
Es war so leicht, die Gefühlsausbrüche Jugendlicher für pathetisch und übertrieben zu halten, ihre Kümmernisse, die aus der Sicht der Erwachsenen geringfügig erschienen, nicht ernst zu nehmen: schlechte Noten, Pickel, unerwiderte Liebe. Das geht vorbei, sagte man, in ein paar Wochen ist alles vergessen. Ich hatte lange gebraucht, bis ich lernte, nicht zu bagatellisieren, was ich als Jugendliche empfunden hatte, das Gefühl, in meiner Heimatstadt, in der Familie, ja im eigenen Körper eine Fremde zu sein, die erste unglückliche Liebe, die Beklemmung angesichts der traditionellen Frauenrolle, der ich mich nicht anpassen wollte. Inzwischen brachte ich es fertig, meine alten Tagebücher zu lesen, ohne mich zu schä
men, und manchmal hätte ich die Vierzehnjährige, die sie geschrieben hatte, am liebsten in die Arme genommen und ihr versichert, eines Tages würde das Leben schön sein. Bestimmt hatte ich das Gleiche geschrieben wie Noora, vielleicht mit fast denselben Worten:
Wenn es doch einen gäbe, der mich so akzeptiert, wie ich bin. Der mich weinen lässt, wenn ich traurig bin, und lachen, wenn mir zum Lachen ist, der nicht über meine Kleider und meine Frisur herzieht wie Mutsch und Paps, nicht über ein paar Kilo zu viel meckert wie Rami, der Scheißkerl. Was die Mädchen in der Schule schnattern, geht an mir vorbei, ich mag nicht ewig über Schmink-tipps reden, die sollten lieber mal ein Buch lesen! Ich fühle mich überall so ANDERS! Hätte ich doch nur eine verwandte Seele, mit der ich über alles reden kann. Damals, als meine Eltern sich trennen wollten, dachte ich, Janne wäre so jemand, aber ich habe mich getäuscht. Er sieht wahnsinnig gut aus und kann richtig nett sein, wenn er will, aber er macht sich nichts aus mir.
ACH, WENN MICH NUR JEMAND LIEBEN WÜRDE!
Die mit dünnem schwarzem Filzstift geschriebenen Zeilen verschwammen vor meinen Augen. Sie flossen ineinander, wurden unleserlich. Es war so verdammt ungerecht, dass man Noora die Chance geraubt hatte, die Verwirklichung ihrer Träume zu erleben. Ich versuchte gar nicht erst, die Tränen zurückzuhalten. Nur gut, dass ich hinter verschlossenen Tü
ren saß, sonst hätte ich mir wieder dämliche Bemerkungen von meinen Kollegen anhören müssen.
Als ich mich
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