Die Todesspirale
sie nicht bemerkt, vielleicht war sie in der Ecke bei den Geräten für die Oberschenkel und Ge-säßmuskeln gewesen, die man von der Tür aus nicht sah.
«Ich will ein bisschen trainieren», sagte ich leicht verlegen, als täte ich etwas Verbotenes. «Ich komme ab und zu her, wir wohnen in der Nähe.»
«Klar. Und der ELV Espoo benutzt dieses Studio, weil Tomi uns einen anständigen Rabatt gibt. Eigentlich wundert es mich, dass sich keiner von den anderen blicken lässt. Rami und Janne wollten jedenfalls kommen.»
«Sie waren vor ein paar Stunden auf dem Präsidium, um Jannes Auto abzuholen. Hör mal, Silja, du erinnerst dich doch sicher an den Abend, als ihr bei den Weissenbergs zum Essen eingeladen wart?», fragte ich, während ich die Schuhe zuschnürte. Es war mühsamer als sonst, weil Schnüppchen sich quer gelegt hatte.
«Natürlich. Ich fand es blöd von Ulrika, Rami und Elena nicht einzuladen. Die Trainer sind schließlich auch wichtig für das Team.»
«Und Ulrika hat euch Schmuck geschenkt …»
«Ja, das war total lächerlich!»
Silja erzählte, der Abend sei für sie eher verwirrend als schmeichelhaft gewesen. Ulrika, im himbeerroten langen Abendkleid, hatte ein Menü mit vier Gängen und Wein serviert, dann mit feierlichen Worten die Schmuckstücke über-reicht und schließlich darauf bestanden zu tanzen. Paul Weissenberg, Noora und Silja hatten peinlich berührt zuge-schaut, wie sie sich an Janne schmiegte.
Also hatte Noora in ihrem Tagebuch nicht übertrieben. Verrückt, wie misstrauisch ich geworden war, ich akzeptierte eine Aussage erst, wenn sie durch eine zweite bestätigt wurde. Im Allgemeinen glaubte man zwar, dass sich Menschen gerade in ihren Tagebüchern offen und ehrlich äußerten, vor allem, wenn sie Teenager waren und abschließbare Kladden benutzten. Aber auch solche Aufzeichnungen enthielten nur die schmale, verzerrte Wahrheit eines Einzigen. Also fragte ich Silja:
«Glaubst du, Ulrika Weissenberg ist in Janne verliebt?»
«Janne ist ein hübscher Junge», sagte Silja bedächtig. «Und Liebe schaut nicht aufs Alter, obwohl mir das Ganze schon ein wenig seltsam vorkommt. Ulrika ist über fünfzig und verheiratet, ihre Kinder sind älter als Janne.»
«Wie steht Janne dazu?»
«Er versucht sich irgendwie durchzuwurschteln, gleichzeitig freundlich und unerreichbar zu sein, genau wie bei Noora. Keiner will sich Ulrika zum Feind machen.» Silja trank noch einen Schluck Wasser. Ich beschloss, mit dem Tratschen aufzuhören und an die Geräte zu gehen, doch sie sprach weiter.
«Man hat uns Fingerabdrücke abgenommen, Vater hat mich dazu aufs Präsidium geholt. Hilft es dir weiter, wenn ich dir sage, dass wir alle Nooras neue Schlittschuhe in der Hand gehalten haben, auch Ulrika? Und Janne hat Noora und mich nach dem Frühtraining oft zur Schule gefahren, und donnerstags nach der Ballettstunde auch.»
Ich nickte, öffnete die Tür und prallte fast gegen Irina Grigorieva. Ihre Mutter Elena folgte ihr und runzelte bei meinem Anblick verwirrt die Stirn. Offenbar fiel es ihr schwer, mich mit der Ermittlerin im Fall Noora Nieminen in Verbindung zu bringen.
Ich brachte einen flüchtigen Gruß heraus und verzog mich zu den Rädern. Dass die gesamte erste Mannschaft des ELV
Espoo hier auftauchen würde, hatte ich wahrhaftig nicht erwartet. Unter diesen Umständen würde es schwierig sein, mit Tomi Liikanen zu reden. Aber gehen wollte ich auch nicht, nachdem ich mich einmal herbemüht hatte. Ich regu-lierte den Widerstand, stellte den Zeitnehmer auf zehn Minuten und trat in die Pedale. Im Spiegel sah ich einen locki-gen Pferdeschwanz, darunter Arme und Schultern, muskulös wie seit Jahren, zu beiden Seiten der Lenkstange schaute mein breiter Bauch hervor. Wie würde mein Körper nach der Entbindung aussehen, würde die Bauchdecke schlaff herun-terhängen wie bei kastrierten Katern? Während der Schwangerschaft hatte ich acht Kilo zugenommen, doch das war normal. Mein Kugelbauch machte mich stolz und verwirrte mich zugleich, mein Körper war wirklicher als je zuvor und dennoch fremd, ein Versteck für Geheimnisse.
Im Spiegel sah ich auch, wie Silja eine Stange auf die Schultern stemmte. Sie hatte etwa zehn Kilo Gewicht aufgelegt, mit dieser Last hüpfte sie federnd auf der Stelle, offenbar um die Sprungkraft ihrer schlanken Beine zu steigern.
Tomi Liikanen sah ihr eine Weile zu und korrigierte dann fachmännisch die Position der Stange. Neben der schlanken Silja wirkte er wie ein
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