Die Todesspirale
meiner Verwunderung ertönte der Türsummer. Ich erwartete niemanden, und meine Kollegen klopften normalerweise an. Sobald ich das grüne Lämpchen aufleuchten ließ, trat ausgerechnet Hanna Nieminen ein. Ihr Gesicht war rot und verschwollen, das Make up konnte die Tränensäcke unter den Augen nicht verbergen, und der pinkfarbene Lippenstift hatte sich auf den aufgesprungenen Lippen ungleichmäßig abgesetzt.
«Ich möchte Nooras Sachen abholen.» Ihre Stimme war heiser und belegt. In den wenigen Tagen hatte Hanna so viel Gewicht verloren, dass sie wieder in ihr schwarzes Kleid passte.
«Die sind nicht mehr hier. Soweit ich weiß, sollten sie heute bei Ihnen abgeliefert werden. Wenn Sie einen Moment warten, prüfe ich es nach. Nehmen Sie doch bitte Platz.»
Hanna Nieminen ging mit seltsam abgezirkelten Bewegungen zum Sessel und setzte sich. Ich rief in der Asservatenkammer an, wo ich Nooras Sachen ordnungsgemäß abgeliefert hatte. Aus irgendeinem Grund waren sie dort liegen geblieben. Ich bot Frau Nieminen an, sie hinzuführen, doch sie blieb sitzen und fragte verlegen:
«Hätten Sie einen Moment Zeit, Hauptmeisterin Kallio?
Mir ist etwas eingefallen, was Ihnen helfen könnte, Nooras Mörder zu finden.»
Da bemerkte sie plötzlich Nooras Tagebuch auf dem Schreibtisch. Ihr Gesicht erstarrte, sie streckte die Hand aus.
«Das gehört Noora, nicht wahr? Ich glaube, ich hätte Ihnen die Bücher nicht geben sollen. Noora wäre das sicher nicht recht gewesen. Sie hat immer aufgepasst, dass ja niemand liest, was sie schreibt. Nachdem Kauko es einmal versucht hatte, hat sie abschließbare Kladden benutzt. Vielleicht sollte ich sie mitnehmen und … verbrennen.»
«Ich muss sie leider vorläufig noch behalten. Möglicherweise liefern sie mir entscheidende Informationen. Aber Sie wollten mir etwas sagen, Frau Nieminen. Ich höre.»
Hanna zupfte an der Haut neben dem Daumennagel. An beiden Daumen war die Haut bereits eingerissen, das entzündete Fleisch leuchtete blutrot und ließ den rosa Nagellack farblos erscheinen. Am liebsten hätte ich ihr verboten, die Finger zu malträtieren, doch ich brachte es nicht über mich.
«Haben Sie schon mal daran gedacht, dass Vesku möglicherweise jemanden beauftragt hat, Noora zu ermorden?», fragte Hanna schließlich, während ihre Finger das Zerstö
rungswerk fortsetzten. «Er kennt alle möglichen Typen, manche davon haben sogar im Gefängnis gesessen …»
Ich nickte. Die Geschichte klang weither geholt, doch ich musste jeden Hinweis ernst nehmen, zumal es keine einzige ordentliche Spur zu geben schien – bis auf den roten Nissan Micra im Parkhaus.
«Als ich zu Vesku gezogen bin, ist Kauko ausfällig geworden. Einmal war ich in unserem Haus, um Kleider zu holen, und da wollte er mich nicht gehen lassen. Danach hat Vesku gesagt, er kenne Leute, die Kauko notfalls eine Lehre erteilen können. Da habe ich zum ersten Mal Angst bekommen, mit so etwas wollte ich nichts zu tun haben.»
«Können Sie Namen nennen?»
Hanna zupfte immer frenetischer an ihren Fingern, sie schien gar nicht zu merken, was sie tat.
«Seine Freunde habe ich kaum gekannt. In den Wochen, die ich bei ihm gewohnt habe, waren wir immer zu zweit.
Wenn Vesku arbeitete, habe ich ihn meistens begleitet. Wir hatten Karaoke Abende in verschiedenen Städten, in Hyvin-kää, Hämeenlinna, Kouvola … Überall haben wir in erstklas-sigen Hotels übernachtet und Champagner getrunken, den Vesku sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Ich habe mich gründlich in ihm getäuscht. Lachen Sie mich ruhig aus, aber ich habe wirklich geglaubt, er wäre sensibel und romantisch.
Dabei ist er bloß ein kleinkrimineller Weiberheld.»
War Nooras Tod eventuell doch quasi eine Art Unfall gewesen? Eine als Drohung gedachte Körperverletzung, die zu heftig ausgefallen war? Ganz undenkbar war das nicht, es würde zudem erklären, wieso die Leiche in einem Kofferraum abgelegt wurde. So war es nämlich neuerdings im Dro-genmilieu üblich.
Hanna hatte mittlerweile eine offene Wunde am linken Daumen, schien jedoch keinen Schmerz zu spüren, sondern zupfte unbeirrt weiter.
«Ist Teräsvuori auch Ihnen gegenüber gewalttätig geworden?», fragte ich, während ich in der Schublade nach Pflaster kramte. Ich hatte es mir schon gedacht, das Päckchen war leer. Koivu hatte ein paar Tage zuvor das letzte Pflaster ver-braucht, nachdem er sich beim Schälen einer Apfelsine in den Mittelfinger geschnitten hatte.
«Das nicht. Es waren die
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