Die Toechter der Familie Faraday
an sie und Bill zu ihren Lebzeiten schon nicht ertragen können. Er durfte nicht zulassen, dass sich andere Erinnerungen in sein Gedächtnis drängten, jetzt, wo sie tot war.
Monate waren ins Land gezogen, bis er sich wieder an die Tagebücher herangewagt hatte. Der Schmerz hatte noch heftig getobt, die Trauer war noch tief. Dieses Mal hatte er nicht in den Büchern gelesen. Er hatte sie in die Hand genommen, nach Jahren sortiert und dabei gute Bilder von Tessa heraufbeschworen – eine lachende Tessa, Tessa mit den Mädchen, Tessa, die sich auf eine Geburtstagsfeier oder die Heimreise nach England freute. Letzteres war eine zweischneidige Erinnerung. Tessa selbst hatte nie viel von ihren zweijährlich stattfindenden Reisen nach England erzählt. Leo hatte ihr jedes Mal viele Fragen gestellt, viele, bis auf die eine, deren Antwort er nicht wissen wollte. »Hast du Bill getroffen?«
Ein Ja hätte er nicht ertragen.
Die Antwort stand in den Tagebüchern. Tessa hatte sie immer mit nach England genommen. Wenn er wissen wollte, ob sie Bill getroffen hatte, müsste er nur das richtige Tagebuch an der richtigen Stelle aufschlagen. Dann könnte er alles nachlesen und endlich herausfinden, ob seine größte Angst berechtigt gewesen war – dass sie Bill bis zuletzt geliebt hatte.
War es das, was Sadie gelesen hatte? Hatte sie von Tessas Vorgeschichte mit Bill erfahren? Hatte Sadie womöglich noch mehr herausgefunden – dass es nicht nur eine Vorgeschichte gab, sondern dass sie eine Fortsetzung gefunden hatte, auch noch nach Tessas Eheschließung mit Leo?
Hatte das Sadie dazu bewogen, wegzulaufen und Maggie mitzunehmen? Als sich dieser Gedanke einmal den Weg in seinen Kopf gebahnt hatte, ließ er sich nicht mehr vertreiben. Was hatte Sadie gelesen, dass sie daraufhin ihre Familie verlassen wollte?
Tief in seinem Innern glaubte er es zu wissen. Hatte Sadie gelesen, dass sie nicht seine Tochter war? Dass sie Bills Tochter war?
Der Gedanke hatte ihn nicht mehr losgelassen. Sicher sahen die fünf Mädchen ihm ähnlich, aber das könnte auch der Fall sein, wenn sie Bills Töchter wären. Er hatte sich Fotos von ihnen allen angesehen, nach weiteren Ähnlichkeiten gesucht, sich davon überzeugt, dass sich allein seine Züge an ihnen wiederfanden. Aber die Stimme in seinem Innern hatte ihn weiter gequält. Sahen sie wirklich alle wie er aus, oder sah vielleicht nur eine Bill ähnlicher? Er und Bill hatten sich sehr geglichen. Doch Bill war größer, fast ein Meter achtzig. Miranda und Juliet waren groß. Sein Haar war lockiger, so wie das von Sadie und Eliza. Er bekam leicht einen Sonnenbrand – so wie Clementine. Leo hatte im Geiste eine Checkliste gemacht, und die Ergebnisse hatten ihm nicht gefallen.
Er hatte die Tagebücher stundenlang in den Händen gehalten. Die Wahrheit stand darin, doch er fürchtete sie. Er stellte sich vor, dass Sadie ebenso dort im Schuppen gesessen, sie gelesen und entdeckt hatte, dass – was? Dass sie als Einzige nicht Leos Tochter war? Dass keine von ihnen seine Tochter war? Beide Vorstellungen waren gleichermaßen unerträglich gewesen.
Er hatte seine anderen Töchter anlügen müssen. Er konnte ihnen die Wahrheit über sein Gespräch mit Sadie nicht erzählen. Wenn er gesagt hätte, dass Sadie die Tagebücher gelesen hatte, hätten sie erkannt, dass er schon damals gelogen und die Bücher nicht verbrannt hatte. Dann hätten die anderen darauf bestanden, Tessas Tagebücher ebenfalls zu lesen. Und dann, dann wäre seine Welt womöglich gänzlich zusammengebrochen.
Also hatte er einen anderen Grund erdacht. Behauptet, dass Sadie zu sich selbst finden wollte. Er hatte seine Töchter all die Jahre in dem Glauben belassen. Dann war ihm eines Tages ein weiterer beunruhigender Gedanke gekommen. Was, wenn Sadie zurückkehren und ihr Wissen mit ihren Schwestern teilen würde? Er hatte es sich in allen Einzelheiten ausgemalt. Sie würde kommen, verändert, selbstbewusst und wild entschlossen, die Wahrheit zu sagen. Sie würde sich nicht von Miranda einschüchtern, von Juliet weichkochen, von Eliza abweisen oder durch Clementine von Maggie fernhalten lassen. Sie würde vor ihnen stehen und sagen, dass ihr Familienleben auf Lügen basierte, dass sie nicht Leos Tochter, dass keine von ihnen seine Tochter war. Und alles, worum er gerungen hatte, alles, was ihm lieb und teuer war, würde vor seinen Augen zugrunde gehen …
Er hatte Sadie jedes Jahr geschrieben, seine Briefe mit Maggies Karten versandt,
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