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Die Toechter der Familie Faraday

Die Toechter der Familie Faraday

Titel: Die Toechter der Familie Faraday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica McInerney
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hatte darüber immer lachen müssen, obwohl er sie oft gebeten hatte, nicht so hart zu sein.
    Siehst du, die Erinnerungen sind doch noch alle da, sagte Leo zu sich selbst und setzte sich ein wenig aufrechter hin. Die Erleichterung machte ihn wieder wach. Die Panik war unnötig gewesen. Alles nur wegen eines einzigen, albernen Vorkommnisses vor einigen Monaten, als es ihm zum ersten Mal versagt geblieben war, sich Tessas Anblick ins Gedächtnis zu rufen. Das hatte einen Domino-Effekt ausgelöst. Ihre Stimme. Nichts. Ihr Lachen. Nichts.
    Da war ihm der Gedanke gekommen, ein Andenken zu schaffen. An Tessa. Das war die Lösung. Erinnerungen, Kommentare und Fotografien, alles an einem Ort. Und was konnte es Passenderes geben, als ein Sammelbuch anzulegen, etwas, das sie selbst so geliebt hatte? Je länger er darüber nachdachte, umso mehr sagte ihm die Idee zu. Er wollte es genauso machen wie sie. Denn falls das Schlimmste passierte, falls er jemals Mühe hätte, sich an sie zu erinnern, müsste er nur das Buch aufschlagen und es wäre alles dort.
    Und welch bessere Zeit und welch besserer Ort, um all diese Erinnerungen zu sammeln, als die Juli-Weihnachtsfeier in Donegal? Er hatte alles bedacht. Er wollte Maggie damit betrauen. Das war die richtige Aufgabe für sie. Er wollte sie bitten, erst ihn selbst zu befragen, dann Clementine, dann ihre Tanten, und alles aufzuschreiben. Es war wichtig. Die Zeit entfloh, und er wollte etwas Bleibendes von Tessa, etwas, das ihn überdauern, das seine Töchter überdauern würde. Er wollte, dass Maggies Kinder so viel wie möglich von ihrer Urgroßmutter wissen konnten. Er wollte auch etwas Bleibendes für sich selbst haben, falls wirklich das Schlimmste geschah und er vergaß.
    Dieser plötzliche Moment des Unvermögens hatte ihn verstört. Er hatte daraufhin sogar einen Arzttermin vereinbart und dem Arzt gesagt, dass er Angst hätte, den Verstand zu verlieren. Als der Arzt ihn gefragt hatte, unter welchen Symptomen er denn litt, hatte er nur ganz kurz gezögert. »Ich kann mich nicht mehr so wie früher an meine Frau erinnern.«
    »Sie sind Witwer?«
    Leo hatte genickt.
    »Wie lange ist sie denn schon tot?«
    »Fünfunddreißig Jahre«, hatte Leo gesagt.
    Der Arzt hätte beinahe gelacht. Leo hatte es wohl bemerkt, und es hatte ihm einen Stich versetzt.
    »Mr. Faraday, das ist vollkommen normal, das versichere ich Ihnen. Die Zeit vergeht, Erinnerungen verblassen, vor allem nach so langer Zeit.«
    »Das mag ja bei anderen so sein. Aber ich will nicht, dass mir das passiert. Ich will sie nicht vergessen.«
    »Aber nach fünfunddreißig Jahren? Haben Sie denn nie eine andere Frau kennengelernt?«
    »Ich wollte nicht.«
    Der Arzt hatte ihn nicht verstanden. Leo hatte die Praxis gleich darauf verlassen.
    Er hatte niemals wieder heiraten wollen. Die Erinnerungen an Tessa waren sein Lebensinhalt. Und soweit er wusste, hielten sie auch seine Töchter aufrecht. Tessa war immer noch Teil ihres Lebens, zugegen in all den wundervollen Traditionen, die sie ins Leben gerufen hatte: der Geburtstagsthron, das Juli-Weihnachtsfest. Sie hatten Tessas Traditionen natürlich an die Umstände angepasst. Tessa selbst hatte bestimmt nicht im Sinn gehabt, die Juli-Weihnachtsfeste in Donegal abzuhalten, aber so blieb ihr Gedenken lebendig. Sie alle hatten ihre ganz besonderen Erinnerungen an sie. Das wollte er nicht ändern. So wenig wie seine eigenen kostbaren, wundervollen Erinnerungen, von denen er seit ihrem Tod zehrte, von denen sie alle zehrten.
    Leo fühlte noch einmal prüfend an seinen Aktenkoffer. Er ließ ihn nicht mehr aus den Augen, nicht, seit er behutsam Tessas Tagebücher dort hineingelegt hatte. Nun reisten sie ständig mit ihm, so unhandlich das bisweilen auch war. In Hobart hatte es gereicht, sie im Schuppen in seiner Nähe zu wissen. Fünfunddreißig Jahre, und noch immer hatte er sie nicht gelesen. Nicht lesen müssen.
    Aber nun lagen die Dinge anders. Er musste wissen, was auf den Seiten stand, bevor er sich zu Sadie aufmachte.
    Er hatte den Mädchen nie alles erzählt, was Sadie ihm an jenem Tag auf dem Campingplatz gesagt hatte. Es war eine entsetzliche Zeit gewesen und ein entsetzlicher Tag. Er hatte niemals zuvor erlebt, dass Clementine die Beherrschung verloren, dass sie jemanden geschlagen hätte, aber an dem Tag hätte sie Sadie wohl umgebracht, wenn sie gekonnt hätte.
    Sadie war bei Clementines Schlägen ungerührt stehen geblieben. Sie war ebenso ungerührt, als Leo mit ihr in

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