Die Toechter der Familie Faraday
den Wohnwagen gegangen war, sie angefleht hatte, ihm zu sagen, warum sie getan hatte, was sie getan hatte, sich zu erklären. Sie hatte ihn angeschaut, als wäre er ein Fremder.
»Wir lieben dich doch, Sadie. Wenn du unglücklich bist, wenn etwas nicht in Ordnung ist, sag es mir bitte. Es hätte deiner Mutter das Herz gebrochen, dich so zu sehen.«
Sie hatte sich die Hände auf die Ohren gelegt. »Ich kann mir das nicht länger anhören. Ich will keine Lügen mehr hören.«
»Was meinst du?«
»Tu nicht so ahnungslos. Es steht doch alles schwarz auf weiß geschrieben.«
Er musste sie vollkommen verständnislos angeschaut haben.
»In Mums Tagebüchern. In deinem Schuppen, du erinnerst dich?«
»Die Tagebücher deiner Mutter? Du hast sie gefunden? Du hast sie gelesen? Wie kannst du es wagen!« Er schämte sich immer noch, dass er ihr gegenüber die Beherrschung verloren hatte, in einem Moment, in dem er ruhig und besonnen hätte reagieren, ihr seine Fürsorge anbieten müssen. Er hatte rotgesehen. Der Schuppen war doch tabu, der Schrank war tabu. In dem Moment war die Anspannung der letzten vierzehn Tage aus ihm herausgebrochen. Er hatte sie beschuldigt, herumzuschnüffeln, hinterhältig ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen …
Sadie hatte nicht versucht, sich zu rechtfertigen. Sie hatte ihm nicht gesagt, wie sie die Tagebücher gefunden, wann und was sie gelesen hatte. Sie hatte gar nichts gesagt. Sie hatte sich einfach von ihm weggedreht, während er sie weiter angebrüllt hatte. Er war ins Stocken geraten, hatte ihr befohlen, ihm zuzuhören, ihn anzusehen. Vergebens. Sie hatte nur dagesessen, als ob er gar nicht anwesend wäre und nicht mit ihr sprechen würde.
Er hatte gehen müssen. Er erklärte, dass er am nächsten Tag zurückkommen würde, dass sie alle darüber schlafen sollten, dass morgen ein neuer Tag wäre. All die abgedroschenen Phrasen. Sie hatte auf nichts gehört. Am nächsten Morgen war sie verschwunden.
Als er, Clementine und Maggie am Tag darauf wieder in Hobart waren, war er als Erstes in den Schuppen gegangen und hatte den Schrank aufgeschlossen. Der rote Korb war hastig und schräg auf das unterste Fach geschoben. Wieso war ihm das nicht aufgefallen, obwohl er immer darauf achtete, dass alles an seinem Platz stand, seinen Schuppen penibel in Ordnung hielt. Er hatte den Korb gegriffen und die Zeitschriften herausgeholt. Die neun Notizbücher hatten ihm entgegengeschaut. Er wusste sofort, dass Sadie die Wahrheit gesagt hatte. Die Reihenfolge war durcheinander.
Er hatte lange Zeit in seinem Schuppen gesessen, die Tagebücher auf seinem Schoß. Was hatte sie gelesen? Von welchen Lügen hatte sie gesprochen? Er wusste es nicht. Er selbst hatte die Tagebücher doch nicht gelesen. Er wollte sie auch in diesem Moment nicht lesen.
Zwei Monate nach Tessas Tod, als seine Welt in Trümmern lag, als selbst das Aufstehen schmerzte, hatte er fälschlicherweise geglaubt, ihre Worte zu lesen, würde ihm Linderung verschaffen. Er hatte das regelrecht zelebriert. Er hatte sich gezwungen, zu duschen, sich zu rasieren, ein anderer zu sein als die heimgesuchte Kreatur, die ihn in den Monaten zuvor im Spiegel angeschaut hatte. Er hatte sich einen Tee aufgebrüht und in ihrer blauen Lieblingstasse mit in den Schuppen genommen. Er hatte den Schrank geöffnet, den Korb herausgeholt und ein Tagebuch in die Hand genommen. Er hatte es blindlings aufgeschlagen, sich gesagt, dass es in Tessas Sinne wäre. Dass sie ihm eine Botschaft durch ihre Tagebücher schicken würde. Natürlich war das Fantasterei, aber er hatte sich so verzweifelt nach ihr gesehnt und war sicher, dass sie über sie alle wachte, dass er sich zu der Überzeugung durchgerungen hatte, es wäre die beste – die einzige – Möglichkeit, mit ihr in Verbindung zu bleiben.
Er hatte es ungefähr in der Mitte aufgeschlagen. Er hatte die ersten drei Sätze gelesen: »Bill war heute mit mir in der Heide picknicken, es war so unglaublich romantisch. Es ist Liebe. Das weiß ich genau!«
Leo war regelrecht zurückgeprallt. Er hatte das Buch zugeschlagen, von sich gestoßen, als hätte er sich daran die Finger verbrannt. Er hatte es wieder in den Korb gelegt, den Korb in den Schrank gestellt, den Schrank verschlossen. Er hatte gekeucht. Dann hatte er gemerkt, dass er weinte. Heulte. Er konnte das nicht lesen. Nicht, wenn es um sie und Bill ging. Nicht jetzt, wo es zu spät war, solche Erinnerungen neu zu erschaffen. Er hatte den Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher